Veröffentlicht 5. August 2020 von Meeri Kim
COVID-19: Die Rolle der Wissenschaft in der Coronakrise
Immer im Hinterkopf: das Coronavirus. Photo/Credit: fpm/iStock
Am Montagmorgen konzentrierte sich die Podiumsdiskussion zur Eröffnung der Online Science Days 2020 auf ein Thema, das nach wie vor alles beherrscht: COVID-19. Während die Pandemie ihre unerbittliche Ausbreitung in allen Teilen der Welt fortsetzt, leisten Wissenschaftler aus der Virologie, Medizin, Epidemiologie und anderen Bereichen ihren Beitrag, um die Krankheit besser zu verstehen. Die virtuelle Debatte warf einen Blick auf die Aufgaben der Wissenschaft in solchen Krisenzeiten, die neben traditionellen Forschungsaufgaben wie der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten auch die Gestaltung politischer Entscheidungen umfasst.
„Die verschiedenen Empfehlungen an Politiker – Lockdown, Abstandsregeln und ähnliche Maßnahmen – haben große wirtschaftliche Konsequenzen,“ sagte Podiumsteilnehmer und Nobelpreisträger Peter C. Doherty. „Wenn sich die echte Welt, wie sie sich selbst gerne bezeichnet, auf das konzentriert, was die Wissenschaft macht und sagt, werden überraschend viele Bereiche politisiert und wir realisieren, dass die Politik fast alles durchdringt.“
Überbrückung der Kluft zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit
Die Diskussionsrunde bestand aus drei Nobelpreisträgern – Doherty, Michael Levitt und Saul Perlmutter – und den beiden Nachwuchswissenschaftlern Alice Fletcher-Etherington und Lin Shiao. Doherty erhielt 1996 gemeinsam mit Rolf Zinkernagel den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin „für ihre Entdeckung, wie das Immunsystem virusinfizierte Zellen erkennt“, während Levitt für „für die Entwicklung von Multiskalen-Modellen für komplexe chemische Systeme“ 2013 der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Perlmutter wurde „für die Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums durch Beobachtungen weit entfernter Supernovae“ 2011 mit dem Nobelpreis in Physik ausgezeichnet.
Ein wiederkehrendes Gesprächsthema waren die falschen Vorstellungen vieler Nicht-Wissenschaftler darüber, wie der wissenschaftliche Prozess funktioniert. Perlmutter, der an der Universität von Kalifornien, Berkeley, einen Kurs zum Kritischen Denken unterrichtet, glaubt, dass die Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber der Öffentlichkeit dazu beitragen wird, die Kluft zwischen Wissenschaftlern und Nicht-Wissenschaftlern zu überbrücken.
„Wenn wir einer Generation von Studierenden diese Herangehensweise beibringen könnten, würden sie meiner Meinung nach viel besser zurechtkommen, wenn sie mit diesen Unsicherheiten konfrontiert wären“, sagte Perlmutter. „Man muss vermitteln, dass Wissenschaft ein iterativer Prozess ist, ein Gruppenprozess, dass sie einige Dinge falsch einschätzt und dann versucht, sie zu korrigieren. Und gerade das ist die Stärke der Wissenschaft.“
Der Nachwuchswissenschaftler Lin Shiao, ein Postdoktorand, der an der Universität von Kalifornien, Berkeley, am Genom-Editing-Tool CRISPR arbeitet, stimmte mit seiner Perspektive aus den USA zu, wo in einigen Regionen das öffentliche Misstrauen gegenüber der Wissenschaft besorgniserregend hoch ist. Er ist der Meinung, dass dies aus einem Gefühl der Verwirrung herrührt, da die Menschen mit widersprüchlichen Informationen aus vertrauenswürdigen sowie unzuverlässigen Quellen bombardiert werden.
Shiao nennt drei Möglichkeiten, wie Wissenschaftler das Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnen können: Wissenschaftskommunikation verbessern, mehr Akzeptanz für Unsicherheit und negative Ergebnisse in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schaffen und Diversität in der Wissenschaft erhöhen.
„In den USA haben wir viel weniger Frauen, Latinos und Farbige, die in der Wissenschaft tätig sind. Wenn diese Bevölkerungsgruppen in Krisenzeiten am stärksten betroffen sind, dann benötigen wir sie wirklich am Tisch, um Wissenschaft zu betreiben, mit ihren Communities zu kommunizieren und Entscheidungen zu treffen, damit ihre Stimmen gehört werden können“, sagte er.
Wissenschaftliche Zusammenarbeit während einer Krise
Ein weiteres Thema der Diskussion waren Stärken und Mängel in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, welche die COVID-19-Pandemie gleichzeitig aufgedeckt hat. Levitt, ein stark datenbasiert arbeitender Wissenschaftler, der die Zeitverläufe der Verbreitung von COVID-19 untersucht hat, kritisierte einige der weltweit führenden wissenschaftlichen Organisationen scharf dafür, dass sie nicht die Führung bei der Schaffung eines Gremiums übernommen haben, welches die Ressourcen zur raschen Bekämpfung der Krankheit bündeln würde.
„Zu entscheiden, was in dieser Situation zu tun ist, ist wirklich sehr, sehr schwierig. Wir können uns nicht auf eine oder zwei Stimmen verlassen. Es hätte ein Komitee gebildet werden müssen – entweder von der Nobel-Stiftung, Lindau, der Royal Society oder der National Academy – Mitte Februar, als sich die Krise zuspitzte. Und wir hätten darüber diskutieren sollen“, sagte Levitt. „Stattdessen haben wir Wirtschaft und Politik die Wissenschaft diktieren lassen.“
Er äußerte eine enorme Enttäuschung über seine Kollegen, „sehr, sehr prominente Wissenschaftler“, die, wie er behauptet, seine Analysen zu COVID-19 ablehnten und von der Politik korrumpiert wurden. Levitt hatte auch abschätzige Worte für Epidemiologen übrig, die eng mit politischen Entscheidungsträgern zusammenarbeiteten und zu Schlussfolgerungen kamen, die er für stark übertrieben hält.
„Wir hätten nie auf die Epidemiologen hören sollen. Sie haben enormes Leid und Schäden in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar verursacht, vor allem bei der jüngeren Generation“, sagte er. „Das wird eine Tragödie, die den 11. September wie ein Kindermärchen aussehen lässt. Das ist viel, viel schlimmer.“
Auch die Nachwuchswissenschaftlerin Alice Fletcher-Etherington, eine Doktorandin der Universität Cambridge, die in der molekularen Virologie tätig ist, brachte die Tatsache zur Sprache, dass die Regierung Großbritanniens dafür kritisiert wurde, dass sie sich zu sehr auf das Wort von Epidemiologen verlassen habe. Die Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) spricht in Krisen wie COVID-19 Empfehlungen an die Regierung aus. Die Gruppe besteht jedoch hauptsächlich aus Epidemiologen und klinischen Medizinern, Experten für öffentliche Gesundheitspolitik fehlen und nur sehr wenige Immunologen und Virologen sind in dem Kreis vertreten.
„Die Protokolle der Sage-Sitzungen wurden gerade erst veröffentlicht, also besteht weiterhin ein Problem bezüglich Transparenz. Aber man kann aus diesen Protokollen ersehen, dass sich der Mangel an Fachwissen innerhalb dieser Gruppe wirklich auf ihre Entscheidungsfindung auswirkte, und vermutlich einen großen Einfluss auf die Reaktion Großbritanniens hatte“, so Fletcher-Etherington.
„Wir geben unser Bestes“
Als Kontrast dazu beschrieb Doherty die Situation in Australien, dessen Regierung auf den Rat von Epidemiologen hörte, und einen Lockdown beschloss. Er glaubt, dass die Zahl der Todesopfer viel schlimmer gewesen wäre – 14.000 Todesopfer statt nur etwa 100 -, wenn die politischen Entscheidungsträger deren Modelle nicht beachtet hätten.
Unabhängig davon, ob die Arbeit der Epidemiologen verdienstvoll ist, könne er nur aus seiner Perspektive als auf die Arbeit im Labor f0kussierter Wissenschaftler sprechen, der an der Lösung des Problems durch die Entwicklung besserer Behandlungen und Impfstoffen arbeitet. In diesem Bereich hat der Nobelpreisträger miterlebt, wie Wissenschaft in nie zuvor gesehenem Maße Geschwindigkeit und Zusammenarbeit praktiziert.
„Ich denke, die Wissenschaft hat so funktioniert, wie sie funktionieren sollte, und zwar sehr gut. Die Menschen hören den Wissenschaftlern zu und nehmen sie zur Kenntnis, und das Interesse ist viel größer als wir es seit Jahren sehen. Wir haben die Politiker und die Bevölkerung zum Zuhören gebracht“, sagte Doherty. „Ob wir schnell einen Impfstoff bekommen werden, weiß ich nicht, aber wir tun unser Möglichstes und ich habe noch nie zuvor erlebt, dass man so schnell vorangekommen ist.“