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Veröffentlicht 19. Januar 2017 von Susanne Dambeck

College oder Online-Kurs?

Die Universitätsausbildung in den USA und Großbritannien gilt als die beste der Welt, laut gängigen Rankings. Doch gleichzeitig ist sie für viele Studenten unerschwinglich geworden, in dreißig Jahren stiegen die Studiengebühren in den USA um unglaubliche 600 Prozent, wie der Bildungsexperte Ryan Craig in seinem lesenswerten Buch ‚College Disrupted – The Great Unbundling of Higher Education‘ beschreibt, was so viel bedeutet wie die gründliche Entflechtung des Bildungswesens. Und warum sollte man sich auch vier Jahre lang durch ein anstrengendes, regelrecht zermürbendes Studium quälen und dafür hoch verschulden, wenn die meisten ohnehin akzeptiert haben, dass sie ihr Leben lang weiterlernen müssen? Darüber hinaus ist ein US-Uniabschluss keine Garantie für einen gutbezahlten Job. Deshalb hinterfragen immer mehr Studenten, ob sich dieser Aufwand überhaupt lohnt – und suchen nach Alternativen.

Ende 2011 entschloss sich der deutschstämmige Stanford-Professor Sebastian Thrun seinen Einführungskurs Künstliche Intelligenz zusätzlich als Online-Kurs anzubieten, aber kostenlos und ohne Zulassungsbeschränkungen. Dieses Format wird auch MOOC genannt, das bedeutet ‚Massive Open Online Course‘. Das Ergebnis: Erstaunliche 160.000 Studenten meldeten sich an, 23.000 nahmen am Schlussexamen teil – mehr als die Gesamtzahl aller eingeschriebener Studenten in Stanford! Nach diesem Überraschungserfolg verließ Thrun Stanford um die private Bildungsfirma Udacity zu gründen, die Online-Kurse in Mathematik und IT anbietet. Thrun ist auch der Gründer von GoogleX, heute nur noch ‚X‘, wo er an der Entwicklung eines selbstfahrenden Autos mitwirkt, und er hat Google-Street-View mitentwickelt.

 

Das College mag Spaß machen, aber es wird immer teuerer. Ein Beispiel: Im Jahr 1970 reichten 182 Stunden Arbeit zum Mindestlohn, um die Studiengebühren eines durchschnittlichen Colleges zu bezahlen. Im Jahr 2013 waren hierfür 991 Arbeitsstunden nötig. Quelle: Ryan Craig, College Disrupted. Photo: iStock.com/SolStock
Das US-College mag Spaß machen – aber es wird immer teuerer. Ein Beispiel: Im Jahr 1970 reichten 182 Stunden Arbeit zum Mindestlohn, um die Studiengebühren eines durchschnittlichen Colleges zu bezahlen. Im Jahr 2013 waren hierfür 991 Arbeitsstunden nötig, das ist mehr als ein halbes Jahr Vollzeitarbeit. Quelle: Ryan Craig, College Disrupted. Photo: iStock.com/SolStock

 

Im Jahr darauf wurden MOOCs zu den Vorboten einer Bildungs-Revolution erklärt. Plötzlich erstellte jede US-Uni ihre eigenen MOOCs, und zahlreiche neue Kooperationen mit privaten Anbietern schossen aus dem Boden. Ein vielbeachtetes Beispiel ist die Zusammenarbeit zwischen Udacity und der San Jose State University SJSU: Seit Anfang 2013 boten sie gemeinsam reine Online-Kurse an, die am Ende zu SJSU-Scheinen führen sollten. Doch schon sechs Monate später wurde das Programm eingestellt als sich herausstellte, dass die Durchfallquote zu hoch war. So erging es vielen Kooperationen und die anfängliche Euphorie wich einer verbreiteten Katerstimmung. Insgesamt gilt die Abbrecherquote bei MOOCs als extrem hoch, nur ungefähr fünf Prozent der Teilnehmer halten bis zum Schluss durch.

Diese ganze Aufregung hat jedoch bei einigen Universitäten zu einer gewissen Verunsicherung geführt, verstärkt durch die Gründung weiterer Firmen die ähnlich arbeiten wie Udacity, zum Beispiel Straighterline, edX oder die Kahn Academy, um nur ein paar zu nennen. Physiknobelpreisträger Brian Schmidt erklärte auf der Abschluss-Podiumsdiskussion der 66. Lindauer Nobelpreiträgertagung im Jahr 2016: „Die Universitäten haben zurzeit noch ein Monopol auf das Erteilen von Abschlüssen. Noch ist dieses Monopol nicht gefährdet, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“ Und er fuhr fort: „Ich halte es für eine realistische Möglichkeit, dass in Zukunft die Absolventen ihre Qualifikationen in einer Art Blockchain speichern können.“ Das ist eine sichere Datenbank, in denen potentielle Arbeitgeber diese Qualifikationen in ausführlichen Lebensläufen studieren können. „Und dies wiederum wird eine Menge nicht-universitärer Anbieter auf den Markt bringen.“

 

Physiknobelpreisträger Brian Schmidt auf dem Schiff zur Insel Mainau, wo die Abschluss-Podiumsdiskussion des 66. Lindauer Nobelpreisträgertreffens stattfand. Als Vizekanzler der Australian National University setzt er sich stark für eine verbesserte Lehre ein. Foto: Christian Flemming/LNLM
Physiknobelpreisträger Brian Schmidt auf dem Schiff zur Insel Mainau, wo die Abschluss-Podiumsdiskussion des 66. Lindauer Nobelpreisträgertreffens stattfand. Als Vizekanzler der Australian National University liegt ihm eine verbesserte Universitätsausbildung sehr am Herzen. Foto: Christian Flemming/LNLM

 

Als Vizekanlzer der Australian National University hat Schmidt die dortige Erstellung von MOOCs aktiv gefördert – und als Konsequenz das ganze Lehrprogramm für Physik umgestellt. Für ihn sind diese Videos eine interessante Lehrmethode, „aber sie sind kein Allheilmittel“. Die entscheidende Wende wird erst kommen, wenn große Arbeitgeber anfangen, die Absolventen von kurzen, zielgerichteten Kursen in großem Umfang einzustellen. Udacity zum Beispiel entwickelt Online-Kurse in enger Zusammenarbeit mit Arbeitgebern, in diesem Fall AT&T, und nennt die Abschlüsse ‚Nanodegrees‘. Es werden auch sogenannte ‚boot camps‘ angeboten, in denen man innerhalb weniger Wochen bestimmte IT-Fähigkeiten lernen kann. Schmidt meinte zu diesen neuen Angeboten auf der Podiumsdiskussion: „Wenn sie auf diesem Weg Absolventen bekommen, die besser für die Aufgaben in ihren Unternehmen gerüstet sind, werden die Arbeitgeber gerne auf solche Programme zurückgreifen. Schon heute sagt die Firma Google: ‚Uns ist ihr Abschluss eigentlich egal, wir führen jetzt zuerst unser eigenen Testprogramm durch.’“ Der nächste logische Schritt wäre, die Lehre von Anfang an außerhalb der Unis und Colleges anzubieten.

Die Aussage von Google zeigt: Nicht nur Studenten sind mit dem derzeitigen System unzufrieden, auch viele Arbeitgeber sind mit den Absolventen traditioneller Unis häufig frustriert. Für Führungspositionen fehlt den Absolventen häufig die nötige Problemlösungskompetenz, ihnen fehlt die Fähigkeit zum kritischen Denken, auch ihre Kommunikationsfähigkeit lässt zu wünschen übrig, so beschreibt es Ryan Craig in seinem Buch. Für weniger qualifizierte Positionen fehlen vielen Bewerbern ganz grundlegende Verhaltensweisen wie Pünktlichkeit, Motivation und Arbeitsethos. Damit wird klar, dass die Studenten nicht die einzigen ‚Käufer‘ oder ‚Kosumenten‘ von höherer Bildung sind. Craig argumentiert, dass die Arbeitgeber die eigentliche Zielgruppe sein müssten, weil von ihnen erwartet wird die Absolventen einzustellen. Und wenn das nicht funktioniert, dann können die betroffenen Studenten ihre Studienkredite nicht zurückzahlen. Das wiederum hat zur Folge, dass die traditionelle Universitätsausbildung unattraktiver wird.

 

Ryan Craig, Autor des Buches ‘College Disrupted – The Great Unbundling of Higher Education’. Er ist jetzt Direktor von University Ventures, eine Investmentfirma, die ausschließlich in höhere Bildung investiert und in diesem Sektor neue Lösungen sucht. Photo: Yahlin Chang
Ryan Craig, Autor des Buches ‘College Disrupted – The Great Unbundling of Higher Education’. Er ist Direktor von University Ventures, eine Investmentfirma, die ausschließlich in höhere Bildung investiert und in diesem Sektor neue Lösungen sucht. Photo: Yahlin Chang

Weil private Anbieter noch keine echten Abschlüsse erteilen dürfen, behelfen sie sich mit detaillierten Auflistungen der Themen eines Kurses und der Fertigkeiten, die dort geübt wurden. Einige Unis greifen dieses Vorgehen bereits auf, zum Beispiel das Linn State Technical College mitten im US-Bundesstaat Missouri: Statt der normalen Zeugnisse, die nur den Namen des Kurses und die Note auflisten, werden hier detaillierte Bewertungen ausgestellt, denen ein künftiger Arbeitgeber entnehmen kann, wie stark sich ein Bewerber in Bezug auf bestimmte Fähigkeiten verbessert hat, die für den Arbeitsmarkt relevant sein könnten. Diese Zeugnisse werden ‚Doppelklick-Abschlüsse‘ genannt, weil ein interessierter Arbeitgeber in den digitalen Bewerbungsunterlagen nur auf den Kurs doppelklicken muss und schon sieht er die Ergebnisse des Bewerbers bei allen Fähigkeiten, die für einen bestimmten Job wichtig sind. Für den Autor Craig sind solche Abschlüsse „nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Entflechtung der höheren Bildung“: Wenn Arbeitgeber mit Absolventen zufrieden sind, die nur Zertifikate anstatt echter Abschlüsse vorweisen können, werden sie mehr davon einstellen. Und wenn Studenten diese detaillierten Zeugnisse wünschen, kommen die Unis nicht umhin, diese auch auszustellen. Dadurch verschwimmt jedoch die Grenze zwischen den verschiedenen Anbietern zunehmend.

Sowohl für Arbeitgeber als auch für Studenten sieht Ryan Craig einen Ausweg aus dem Ausbildungsdilemma, das darin besteht, dass die Studenten immer höhere Summen investieren müssen und die Arbeitgeber trotzdem unzufrieden sind: einen Arbeitsmarkt der Kompetenzen, nicht der Abschlüsse. Wenn Absolventen eine immer detailliertere digitale Auflistung ihrer berufsbezogenen Fertigkeiten vorweisen, dann können diese Angaben viel besser mit den ebenfalls digitalisierten Stellenausschreibungen verknüpft werden. Craig nennt das Ergebnis „eine Dating-Website für Jobs“. Die Netzwerk-Website LinkedIn gehe bereits in diese Richtung, aber Craig kann sich darüber hinaus alle möglichen spezialisierten Websites für berufliche Fertigkeiten und Kompetenzen vorstellen.

Schließlich geht Ryan Craig davon aus, dass sich ein Zweiklassensystem der höheren Bildung in den USA herauskristallisieren wird: Die Top-Universitäten werden weitermachen wie bisher, wahrscheinlich werden sie ihr Angebot um Online-Vorlesungen und ausführlichere Zeugnisse erweitern. Alle anderen Colleges und Unis werden sich darauf konzentrieren, Fertigkeiten zu unterrichten, die auf dem Arbeitsmarkt wirklich gebraucht werden. Sie werden diese Programme zusammen mit künftigen Arbeitgebern und mit Firmen wie Udacity entwickeln, und dazu werden auch kurze, preiswerte Online-Kurse gehören. Auf diesem Umweg wird es diesen Ausbildungsfirmen doch noch gelingen, zu einem ‚echten‘ Abschluss beizutragen, der wiederum von einer teilnehmenden Uni verliehen wird. Schon heute wird in den USA über ’stapelbare Abschlüsse‘ diskutiert, bei denen sich Studenten ihren Abschluss aus diversen Kursen bei verschiedenen Anbietern selbst zusammenstellen können.

Es ist kein Zufall, dass diese Trends ausgerechnet im IT-Sektor entstanden, wo schnelle Veränderungen die Norm sind. In anderen Fächern werden traditionelle Abschlüsse wohl länger wichtig bleiben. Doch haben sogenannte ‚disruptive Erfindungen‘ die Eigenart, benachbarte Fächer zu infizieren. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass es ähnliche Trends bald auch in den Wirtschafts-, Sozial- oder Geisteswissenschaften geben könnte.
In diesem Artikel ging es hauptsächlich um die Entwicklung in den USA, Entwicklungen dort beeinflussen jedoch meist die ganze Welt, insbesondere wenn es um höhere Bildung geht. Und Großbritannien wiederum hat bereits seine eigene Studiengebühren-Krise. Neue Trends dieser Art entstehen heute an vielen Orten, ein Beispiel wäre die Kiron-University in Berlin, die sich zur Aufgabe gemacht hat, höhere Bildung für Flüchtlinge in aller Welt kostenlos und auf Englisch anzubieten. Die engagierten Kiron-Gründer haben bereits erste Partner-Unis gefunden, die bereit sind, ihre Scheine anzuerkennen.

In seinem Buch argumentiert Ryan Craig, dass die höhere Bildung in den USA wie ein Bündel oder Paket ist, zu dem nicht nur Bildung gehört, sondern auch die Verpflegung der Studenten, ihre Unterkunft, teuere Sportanlangen, medizinische Versorgung, usw. Und in der aktuellen Entwicklung wird dieses Bündel entflochten, wie die gute alte CD, deren Verkäufe in den Keller gingen als sich die Verbraucher einzelne Lieder herunterladen konnten und nicht mehr gezwungen waren, das ganze ‚Bündel‘ zu kaufen. Wie Brian Schmidt auf der Podiumsdiskussion in Lindau sagte: „Hier passiert zur Zeit eine Menge, die Dinge verändern sich rasend schnell. Und ich befasse mich damit, weil ich nicht möchte, dass meine Universität bei diesem Thema abgehängt wird.“

 

Bereits über drei Millionen Studenten sind in den USA in Online-Programme der traditionellen Universitäten und Colleges eingeschrieben, neue Anbieter nicht mitgezählt. Alleine zuhause lernen macht vielleicht weniger Spaß, ist aber in Zeiten des lebenslangen Lernens oft unvermeidbar. Foto: iStock.com/demaerre
Bereits über drei Millionen Studenten sind in den USA in Online-Programme der traditionellen Universitäten und Colleges eingeschrieben, neue Anbieter nicht mitgezählt. Alleine zuhause lernen macht vielleicht weniger Spaß, ist aber in Zeiten des lebenslangen Lernens oft unvermeidbar. Foto: iStock.com/demaerre

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.