Published 12 December 2016 by Susanne Dambeck
Chemienobelpreis 2016: “Eine neue Art von chemischer Bindung ist extrem selten”
Die drei neuen Laureaten leisteten Grundlagenforschung für ein neues Themenfeld in der Chemie: molekulare Maschinen, auch Nanomaschinen genannt. Sie alle schufen synthetische Moleküle, die sich verhalten als wären sie Biomoleküle, beispielsweise ändern sie ihre Form und ihre Funktion, wenn Energie zugeführt wird.
Wie so oft in der Forschung stolperte Jean-Pierre Sauvage über die Möglichkeit, Nanomaschinen zu bauen, während er eigentlich ein anderes Thema verfolgen wollte. Er befasste sich mit Photochemie, entwickelte also Molekülkomplexe, die Licht speichern und für chemische Reaktionen verwenden können. Als Sauvage mit seinem Team an der Universität Strasbourg in den frühen 1980er Jahren einen solchen photochemischen Komplex entwickelte, sah er plötzlich, dass dieses Gebilde einem Kettenglied ähnelte: Zwei Moleküle wurden beide von einem Kupferion angezogen. Als nächstes entwickelte er mit seinem Team ein rundes und ein halbrundes Molekül, die beide von dem Ion angezogen wurden (s. Grafik unten).
Zum Schluss fügten die Chemiker ein drittes Molekül hinzu, welches das offene Kettenglied verschloss – der Anfang einer Molekülkette war geschafft. Das Kupferion konnte nun entfernt werden. Die Moleküle waren mit einer neuen Art von chemischer Bindung aneinander gekettet, und zwar mit einer mechanischen Bindung: Im Rahmen dieser neuen Bindung konnten sie sich frei gegeneinander bewegen.
Der gebürtige Schotte Fraser Stoddart erschuf ebenfalls eine sogenannte ‘topologische Verknüpfung’ zwischen Molekülen, allerdings ohne Metallionen. Am Tag der Bekanntgabe der 2016er Chemienobelpreise erklärte er in einer Pressekonferenz der Northwestern University, wo er lehrt und forscht: “Jeden Tag werden auf der Welt tausende neue chemische Verbindungen geschaffen, und jeden Monat werden vielleicht ein Dutzend neue chemische Reaktionen entdeckt. Aber eine neue Art von chemischer Bindung ist extrem selten.”
In den 1990er Jahren begannen beide Teams unabhängig voneinander, ihre Erfindungen in Bewegung zu setzen. Stoddart entwickelte zunächst ein ringförmiges Molekül, das mechanisch an eine Achse gebunden war. Von diesem Startpunkt aus konnte sein Team ein Molekül entwickeln, das beim Zuführen von Energie nach rechts und links springt und zurück. Später wurde daraus ein molekularer Aufzug: Das Molekül konnte nun von unten nach oben springen und zurück. Das Stoddart-Team heizte die Bewegung an, indem es Elektronen entweder zu- oder abführte, chemisch ausgedrückt heißt das Oxidation und Reduktion. Darüber hinaus entwickelte das Team an der Northwestern University bei Chicago noch einen molekularen Muskel, der sich zusammenziehen und wieder strecken kann, sowie molekulare Schalter, die in neuartigen Computerchips genutzt werden könnten. Hier eine Grafik von Stoddarts molekularem Aufzug:
Im Rahmen der Pressekonferenz, auf der die Chemienobelpreise 2016 verkündet wurden, telefonierte Göran Hansson, Generalsekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und langjähriges Mitglied des Nobelpreiskomitees, mit Bernard Feringa. Dieser berichtete, dass er ebenfalls etwas anderes untersuchen wollte, als er quasi über den Bau von Nanomaschinen stolperte. “Ursprünglich ging es mir um eine alternative Datenspeicherung. Da entdeckten wir, dass wir nicht nur Schaltungen bauen, sondern auch Bewegungen erzeugen konnten. Schließlich wurde uns klar, dass es die Möglichkeit gibt, Bewegungen im Nanobereich zu kontrollieren.” Schon 1999 hatte Feringa an der Universität Groningen ein kompliziertes Molekül entwickelt, das sich kontinuierlich in eine Richtung drehen kann. Vier dieser Nanomotoren zusammen bilden Feringas berühmtes Nanoauto, das er 2011 über eine Metalloberfläche ‘fahren’ ließ. Die Energie für dieses Fahrzeug stammt aus einem Rastertunnelmikroskop, kurz RTM.
Zurzeit arbeiten verschiedene Teams weltweit an solchen synthetischen Molekülen – sie werden immer komplexer und ähneln Biomolekülen immer stärker. Manche Experten sagen voraus, dass Nanomaschinen in Zukunft unsere Welt in einem kaum vorstellbaren Ausmaß verändern werden, zum Beispiel der Materialforscher Mark Miodownik. Er erklärte anlässlich des aktuellen Chemienobelpreises in der britischen Zeitung The Guardian, wie Nanomaschinen unsere Städte verändern könnten: “Wenn wir eine Infrastruktur möchten, die sich selbst instand halten kann, dann bewegen wir uns unaufhaltsam in Richtung selbstreparierender Systeme.” Und weiter führt er aus: “Künftig wird es Plastikrohre geben, die sich selbst flicken können, und Brücken, deren Schäden durch winzige Maschinen auf mikroskopischer Ebene repariert werden. Das Potential ist enorm.”
Bernard Feringa gab am Telefon mit Göran Hansson zu, dass die Entwicklung der winzigen Maschinen noch ziemlich am Anfang stehe. Dann ergänzte er: “Stellen Sie sich kleine Roboter vor, die Ärzte in die Blutbahn injizieren und die dann selbstständig nach Krebszellen suchen oder Medikamente ausliefern.” Er vergleicht seine Forschung mit den ersten Flugerfolgen der Gebrüder Wright – damals konnte sich kein Mensch vorstellen, wie die Flugzeuge im Jahr 2016 aussehen würden. Das Nobelpreiskomitee selbst vergleicht die Anfänge der Nanomaschinen mit dem Beginn des elektrischen Zeitalters um 1830: Damals entwickelten Tüftler allerhand Jahrmarktbuden-Attraktionen, die sich mit elektrischem Strom bewegten, nicht ahnend, dass diese Erfindung eines Tages zu Waschmaschinen, Elektrozügen und so weiter führen würde. Das Nobelpreiskomitee sagt den kleinen Maschinen eine ebenso große Zukunft voraus, in den Feldern Datenverarbeitung, Energiespeicherung, Sensorik und Medizin, um nur ein paar Gebiete zu nennen.
Doch wie Lars Fischer im Dezember-Heft von Spektrum der Wissenschaft anmerkt: Bis es so weit ist, liegt noch ein weiter Weg vor den Maschinchen. Es gibt zum Beispiel keine Möglichkeit, Nanobots im menschlichen Körper über RTM mit Energie zu versorgen, und auch die technischen Möglichkeiten, wie Millionen Nanomaschinen miteinander kommunizieren können, um wirklich ‘intelligente Materialien’ zu schaffen, müssen noch entwickelt werden.
Als Feringa am Telefon nach möglichen Risiken seiner Erfindungen gefragt wird, gibt er sich betont gelassen: “Wir müssen uns schon überlegen, wie wir diese Dinge sicher einsetzen, aber darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Wir werden in der Lage sein, Sicherheitsvorrichtungen zu entwickeln, wenn diese nötig werden.” Man könnte diese Aussage auch folgendermaßen interpretieren: Es wird so lange dauern, bis Nanobots und intelligente Materialien dieser Bauart einsatzfähig sind, dass den Forschern jede Menge Zeit bleibt, um passende Sicherheitskonzepte zu entwickeln; diese Entwicklungsarbeit allein ist schon ein großes neues Forschungsfeld.
Das Thema des 67. Lindauer Nobelpreisträgertreffens im Juni 2017 wird Chemie sein. Wir hoffen sehr, einige – oder alle – frischgebackenen Chemienobelpreisträger diesen Sommer in Lindau begrüßen zu dürfen!