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Veröffentlicht 1. August 2018 von Jude Dineley

Die stille Krise in der Krebsbehandlung

Für Menschen, die eine lebensverändernde Krebsdiagnose erhalten, wird die „Geburtslotterie“ zu einem entscheidenden Überlebensfaktor. So ist beispielsweise die Überlebenschance bei Brustkrebs in westlichen Ländern mehr als doppelt so hoch wie in Niedrigeinkommensländern.

Diese Ungleichheit lässt sich jedoch nur durch vielfältige Interventionen beheben, die von präventiven Maßnahmen im öffentlichen Gesundheitswesen bis hin zu einem besseren Behandlungszugang reichen. Verschärft werden die Probleme noch durch einen Mangel an medizinischen Fachkräften sowie deren unzureichende Aus- und Weiterbildung. Die Technologie ist ein wichtiger Bereich, in dem Forschung einen Beitrag zur Verbesserung dieser Situation leisten kann.

 

Ein von der IAEA veröffentlichtes weltweites Verzeichnis der Behandlungsgeräte pro Millionen Einwohner verdeutlicht die „Lücke“ in der Strahlentherapie. Während ganz Senegal bspw. über zwei Geräte verfügt, stehen in der Schweiz für eine rund halb so große Bevölkerung 74 Geräte zur Verfügung. Credit: DIRAC Project, IAEA

Linearbeschleuniger oder LINACs sind die Arbeitstiere der Radiotherapie und ein typisches Beispiel. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 50% der an Krebs erkrankten Menschen von Radiotherapie profitieren würden, aber nur 10% der Menschen in Niedrigeinkommensländern Zugang zu dieser Option haben – dies hat die International Atomic Energy Agency (IAEA) als die „stille Krise“ bezeichnet.

Und dieser Bedarf wird noch wachsen: Zusätzlich 25 Millionen Krebserkrankungen pro Jahr bis 2035, eine Steigerung gegenüber 2015 um 67%, wurden prognostiziert, wovon rund zwei Drittel auf Länder mit geringem bis mittlerem Einkommen (sog. LMIC-Länder) entfallen.

Das Problem mit den Beschleunigern

LINACs sind komplexe Kreaturen, die mehrere Millionen Dollar kosten und regelmäßig überprüft und gewartet werden müssen, damit die Strahlentherapie sicher und präzise durchgeführt werden kann. Geschichten über LINACs, die nach einer Störung nicht mehr einsetzbar sind, weil finanzielle Mittel oder Servicekompetenzen fehlen, sind deshalb in LMIC-Ländern nichts Ungewöhnliches.

Die Linacs des Onkologischen Zentrums für Strahlentherapie in Singen werden im Sommer ausschließlich über Photovoltaik-Anlagen betrieben. Credit: Holger Wirtz

Zur Bewältigung dieses Problems arbeiten Wissenschaftler an robusteren und kostengünstigeren LINACs. Eine koordinierte globale Initiative, in der u. a. Experten von CERN, IAEA und acht LMIC-Ländern zusammenarbeiten, entwickelt in ihrer Frühphase Spezifikationen für ein komplettes Strahlungstherapiesystem und eine entsprechende Konzeption.

Strommangel ist ein kritisches Problem, denn LINACs fressen Strom und sind auf eine stabile Stromversorgung angewiesen – in LMIC-Ländern keine Selbstverständlichkeit. Eine der möglichen Lösungen ist in der Nähe von Lindau im Onkologischen Zentrum für Strahlentherapie in Singen zu besichtigen. Als einzige weltweit werden die LINACs des Zentrums – den ganzen Sommer über – direkt mit Energie von Sonnenkollektoren versorgt.  Der Leitende Medizinphysikexperte der Gemeinschaftspraxis, Holger Wirtz, plant mit Hilfe bestehender Batterietechnologie den Bau einer hundertprozentig netzunabhängigen Klinik in Deutschland, die als Demonstrationsstandort für Kliniken in LMIC-Ländern dienen kann.

Ein robusterer LINAC

Andere Projekte beschäftigen sich mit der Vereinfachung der LINAC-Hardware. So entwickelt das US-Unternehmen RadiaBeam  auf der Grundlage eines an der UCLA entwickelten Konzepts einen erschwinglichen LINAC, der weniger Strom verbraucht und robuster ist, aber gleichzeitig eine qualitativ hochwertige Behandlung ermöglicht. “[Studien zeigen], dass die Entwicklungsländer keine zweitklassigen Produkte wollen”, sagt CEO Salime Boucher.

Eine wichtige Neuerung ist der Kollimator des Linacs – die strahlenfokussierende Vorrichtung, die das gesunde Gewebe der Patienten während der Bestrahlung schützt. Konventionelle Kollimatoren sind komplexe Geräte, die typischerweise aus über 100 einzeln betriebenen fingerartigen Metall-Lamellen bestehen und zu einem erheblichen Teil zu Störungen an Linacs beitragen. Das neue Design arbeitet nur noch mit acht solcher Lamellen, die durch größere, stabilere Motoren gesteuert werden und eine bewegliche Blendenöffnung für die Tumorbestrahlung bilden.

In einem anderen Projekt wird an der University of Sydney, Australien, eine einfachere Gantry (die Struktur, von der die Bestrahlung abgegeben wird) entwickelt. Während konventionelle Gantrys um den Patienten rotieren, um den Tumor von allen Seiten mit Strahlen zu befeuern, ist die Nano-X Gantry fest installiert und schießt die Strahlen in den Boden. Dabei wird nicht mehr die Maschine, sondern der kleinere, leichtere Patient rotiert – ein wesentlich leichter zu lösendes technisches Problem.

Möglich wird dieser Wechsel durch hochpräzise Bildgebungsverfahren und Verarbeitungsalgorithmen. Während der Rotation des Patienten detektieren Röntgenstrahlen die neue Position des Tumors und die aus der Rotation resultierende Deformation. Mit Hilfe dieser Daten werden die Strahleneinstellungen dann aktualisiert, was eine punktgenaue Behandlung von Tumoren ermöglicht. Das Design ist kompakt und reduziert den erforderlichen Abschirmungsaufwand in Wänden und Decken der Behandlungsräume. Ein angegliedertes Start-up, ebenfalls in Sydney ansässig, arbeitet an einer vergleichbaren Lösung.

Bildgebung durch EDV verbessern

Bildgebungsverfahren wie Ultraschall, CT oder MRT erfüllen verschiedene Aufgaben in der Krebsbehandlung. Das reicht von Screening-Programmen bis zur Überwachung von Behandlungserfolgen. Hier könnten computergestützte Techniken, die Bilder rekonstruieren und deren Analyse automatisieren, zur Reduzierung der Arbeitsbelastung in den Kliniken weltweit beitragen.

Harshita Sharma, eine junge Wissenschaftlerin von der University of Oxford und Teilnehmerin der 68. Lindauer Nobelpreisträgertagung, entwickelt solche Methoden im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten. Dazu zählen auch maschinelle Lernverfahren, ein hochaktuelles Thema in der biomedizinischen Bildgebung. „Wir wollen diese Anwendungen als zeitsparende und arbeitserleichternde Lösungen für Mediziner entwickeln”, sagt Sharma. Das käme besonders LMIC-Ländern zugute, wo Personalmangel und überlastete Ärzte noch weiter verbreitet sind als woanders, so Sharma.

Mit computergestützten Analysen lässt sich auch Geld sparen. Für ihre Doktorarbeit im Bereich der digitalen Pathologie untersuchte Sharma beispielsweise, ob eine preisgünstigere, effiziente Färbetechnik für Magenkarzinome, die HE-Färbung, mit Hilfe des maschinellen Lernens bessere Ergebnisse liefern würde. Derzeit ist diese Technik nicht die erste Wahl der Pathologen, da sich bestimmte Krebsarten dabei nicht so leicht mit dem Auge differenzieren lassen. Erste Genauigkeitswerte von 75 bis 80% sind vielversprechend.

Entwicklungen im Bereich des Maschinellen Lernens werden enorme Auswirkungen auf die Radiologie haben, meint Ge Wang vom Rensselaer Polytechnic Institute, New York. Im Kern wird dadurch die Komplexität der Bildgebung von der Hardware auf die Software verlagert. „Mittels künstlicher Intelligenz für die tomographische Rekonstruktion können preisgünstigere Scanner bessere Bilder machen”, erläutert Wang.

Wang ist dabei, einen kompakten und mobilen CT-Scanner zu entwickeln, der mit einfacherer Hardware weniger Daten beim Patienten erfasst, was durch eine komplexe Bildrekonstruktion kompensiert wird. In einer kühnen Vision, dem AVATAR, sieht er den Scanner auf einem autonomen selbstfahrenden LKW, der die Tomographie in entlegene Gemeinden bringt.

 

Ein minderwertiges, niedrigdosiertes CT-Bild (links) wird mit Hilfe von maschinellem Lernen zu einer Version (rechts) aufgewertet, die mit einem standarddosierten CT-Scan (Mitte) vergleichbar ist. Maschinelles Lernen könnte einfachere, preisgünstigere und sicherere Scanner ermöglichen. Bildnachweis: Ge Wang, in einer Kooperation zwischen RPI, Sichuan Univ. & MGH/Harvard

Das Potenzial für effektive, leichter zugängliche Technologien ist enorm. Damit sie aber etwas bewirken können, müssen solche Innovationsbestrebungen Teil einer größeren Bewegung werden. Finanzielle Mittel und der Wille der Regierungen, die stille Krise zu bewältigen, sind entscheidende Voraussetzungen dafür. Einem neueren WHO-Bericht zufolge bleiben die langfristigen Bemühungen um eine Reduzierung vorzeitiger Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs hinter den Zielen zurück. Lässt sich das Ruder noch herumreißen? Man darf gespannt sein. 

Lesen Sie hier mehr über die komplexen Herausforderungen der Einführung medizinischer Innovationen in LMIC-Ländern, die bei der 68. Lindauer Nobelpreisträgertagung diskutiert wurden.

Jude Dineley

Jude Dineley is a science writer based in Bavaria, Germany. She has a PhD in medical ultrasound physics from the University of Edinburgh and has worked in clinical radiotherapy in the UK, Ireland and Australia. She enjoys writing on a variety of topics, from the physical sciences to issues affecting scientists, and has been a contributor to Physics World and former sister site medicalphysicsweb since 2008.