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Veröffentlicht 25. August 2017 von Frances Coppola

Der Mythos von der unabhängigen Zentralbank

In der heutigen Welt des Fiatgeldes hat Geld keinen ‘inneren‘ Wert. Menschen messen ihm einen Wert bei, weil andere Menschen das ebenfalls tun. Solange sich alle einig sind, dass Fiatgeld Wert hat, hat es Wert. Sobald sich aber genügend Menschen plötzlich entscheiden, ungedecktes Papiergeld für wertlos zu halten, wird es wertlos.

In Hochinflationsepisoden verflüchtigt sich das Vertrauen in eine Fiatwährung und versuchen alle, sie zugunsten von Sachgütern, Rohstoffen und sogar anderen Fiatwährungen loszuwerden. Das Anschmeißen der Druckerpresse macht die Sache nur noch schlimmer.

Makroökonomische Modelle mit (Fiat-)Geld sind also naturgemäß Modelle mit multiplen Gleichgewichten. Während der Wert des Geldes in einem bestimmten Gleichgewicht stabil ist, entwickelt sich in einem anderen eine unkontrollierbare Inflationsdynamik mit der Folge, dass das Geld entweder wertlos (Hyperinflation) oder unendlich wertvoll (Fisher-‚Schuldendeflation‘) wird.

In solchen Modellen kann die Wirtschaft plötzlich in ein explosionsartig inflatorisches Gleichgewicht umspringen. Praktisch impliziert das die mögliche Auslösung eines ‘Runs auf die Zentralbank’.

Theoretisch können Zentralbanken natürlich die Nachfrage nach ihrer eigenen Währung immer durch eine Geldschöpfung ex nihilo decken. Wenn aber ständig das Risiko eines plötzlichen Umspringens auf ein explosionsartig inflatorisches oder deflatorisches Gleichgewicht besteht, können sie den Wert nicht garantieren.

Nobelpreisträger Professor Christopher Sims argumentiert, dass es die Fiskalpolitik ist, die den Wert von Fiatgeld garantiert. Deshalb kann es keine regierungsunabhängigen Zentralbanken geben. Die ‘unabhängige Zentralbank’ ist ein Mythos.

Aber was ist mit der Europäischen Zentralbank (EZB), deren Unabhängigkeit von den Regierungen per Abkommen garantiert wird? Das ursprüngliche Konzept des Eurosystems setzt eine strenge Trennung zwischen Geld- und Fiskalpolitik voraus und geht davon aus, dass die Geldpolitik keinen Anlass zu fiskalischen Transfers gibt.

Heute wissen wir, dass alle geldpolitischen Maßnahmen fiskalpolitische Konsequenzen haben: So sorgen beispielsweise Zinserhöhungen dafür, dass sich der Wohlstand aus stärker verschuldeten Ländern auf Länder mit weniger Schulden verlagert. Der Aufkauf von Staatsanleihen nach einem ‘Kapitalzeichnungsschlüssel’ reduziert die Kosten für die Geldaufnahme größerer und reicherer Länder.

Die Existenz des Euro war durch eine finanzielle Schieflage in einigen Ländern der Eurozone bedroht. Darauf musste die EZB gezwungenermaßen reagieren. Also ist auch die EZB mit den Regierungen verflochten.

Notenbanken sind nicht nur nicht von Regierungen unabhängig, sondern zudem auf eine angemessene und plausible antizyklische Finanzpolitik der Regierungen angewiesen. Wie Professor Sims es formuliert: “Wenn die Menschen verstehen, dass die Finanzpolitik in Zeiten starker Inflation die Ausuferung staatlicher Defizite einzudämmen versucht und in Zeiten, in denen sich die Zinsen an oder in der Nähe der unteren Grenze bewegen, die Defizite ausweiten wird, sind Sonnenflecken-Fluktuationen und multiple Gleichgewichte eliminiert.“

Die ‘Fiskaltheorie des Preisniveaus’ (fiscal theory of the price level) besagt, dass die Fiskalpolitik den realen Wert öffentlicher Schulden langfristig aufrechterhalten muss, um den Wert von Fiatgeld stabil zu halten und ein Umspringen auf eine instabile inflatorische Dynamik zu verhindern. Der Fiatgeld-‚Schwindel‘, wonach es – wie bei Tinkerbell – solange Wert hat, wie die Menschen daran glauben, hängt also genauso stark von der Glaubwürdigkeit der Fiskalpolitik wie der Geldpolitik ab.

Die Fähigkeit der Zentralbanken, in einer Krise als Kreditgeber letzter Instanz zu fungieren, ist auf ihre fiskalische Rückendeckung angewiesen. Wenn eine Zentralbank aktiv Vermögenswerte aufkauft, ist ihre technische Insolvenz möglich, wenn diese Vermögenswerte an Wert verlieren. Mehrere Zentralbanken in der Welt weisen derzeit ein negatives Eigenkapital entsprechend der Marktpreisbewertung aus, darunter einige (wie die chilenische Zentralbank) über einen längeren Zeitraum.

Es ist heftig debattiert worden, ob die Solvabilität von Zentralbanken Auswirkungen auf ihre Glaubwürdigkeit als Kreditgeber letzter Instanz oder ihre Fähigkeit zur Inflationsbekämpfung hat. Das scheint wohl nicht der Fall zu sein – vorausgesetzt, dass die Fiskalbehörden sie unterstützen können.

Oft reicht der Nettobarwert der künftigen Seigniorage aus, um Inkongruenzen zwischen Aktiva und Passiva entsprechend der Marktpreisbewertung abzudecken. Reicht die Seigniorage aber nicht aus, werden Steuereinnahmen benötigt, um die Lücken zu schließen. In der Praxis heißt das, dass der Nettobarwert der prognostizierten künftigen Primärüberschüsse ausreichen muss, um die Zentralbank ohne Erhöhung der Staatsverschuldung zu rekapitalisieren.

Was passiert, wenn die Fiskalbehörde nicht zur Rekapitalisierung ihrer Zentralbank bereit ist? In Ländern wie den USA wäre das undenkbar, da die Währung dort durch das ‚volle Vertrauen‘ der US-Regierung gestützt wird.

 

Laureate Christopher Sims during his lecture at the 6th Lindau Meeting on Economic Sciences. Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings
Christopher Sims während seines Vortags auf der 6. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften. Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

Aber in der Eurozone ist die Zentralbank nicht nur völlig unabhängig von der Regierung, sondern hat es zudem mit 19 Regierungen unterschiedlich starker finanzpolitischer Glaubwürdigkeit zu tun. Die Aufrechterhaltung der Euro-Stabilität hängt von der Bereitschaft all dieser Regierungen ab, für eine Rekapitalisierung der EZB zu sorgen.

Und ihre Bereitschaft wurde, um ehrlich zu sein, bereits auf den Prüfstand gestellt. Seit den ‘Whatever it takes’-Bemerkungen von EZB-Präsident Mario Draghi auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2012 hat die EZB in gewissem Sinne die Rolle einer fiskalischen Institution übernommen, die aktiv öffentliche Schulden von Ländern der Eurozone aufkauft, um die Anleihezinsen niedrig zu halten.

Hätte sie nicht so gehandelt, wären einige dieser Länder zweifelsohne aus der Eurozone gedrängt worden. Dies geschah wohl auf Kosten ihrer eigenen Solvabilität. Ein ‘Run auf die EZB’, wie unter dem Eindruck der Märkte, dass die finanzielle Unterstützung für die EZB auf sich warten lässt, zu erwarten gewesen wäre, hat jedoch nicht stattgefunden.

Aber die EZB könnte nach wie vor gezwungen sein, die öffentlichen Schulden von Ländern mit ‘unverantwortlicher’ Finanzpolitik aufzukaufen, wenn ansonsten ein partieller Einbruch des Euro zu befürchten wäre. Einige Länder der Eurozone könnten davor zurückschrecken, eine Zentralbank zu rekapitalisieren, die ihrer Ansicht nach aktiv Regierungen unterstützt hat, die gegen finanzpolitische Vorschriften verstoßen haben – insbesondere, da es der EZB an einer demokratischen Legitimation für solche Entscheidungen fehlt.

Die Eurozone lebt also weiterhin in einer Welt multipler Gleichgewichte, wenn auch momentan ein plötzliches Umspringen auf eine unkontrollierbare Inflationsdynamik wenig wahrscheinlich erscheint.

Professor Sims sagt, es wäre besser, wenn es eine demokratisch kontrollierbare finanzpolitische Institution für den gesamten Euroraum mit der Befugnis zur Steuererhöhung gäbe, die den An- und Verkauf (oder die Emission) von Staatsanleihen übernehmen könnte. „Aber ich weiß auch nicht, wie man das organisieren sollte“, schloss er seine Ausführungen.

In den Vereinigten Staaten weiß man, wie man so etwas angeht. Sie nennen eine solche Institution ‘Federal Government’. Leider scheinen wir von der Einführung einer solchen Einrichtung im Euroraum weit entfernt zu sein. So werden multiple Gleichgewichte und Sonnenflecken-Fluktuationen wohl noch viele Jahre zur Tagesordnung gehören.

Frances Coppola

Frances Coppola spent many years working for banks and now writes and speaks about banking, finance and economics. She is a contributor to Forbes, the Financial Times and a range of other publications, and a frequent commentator for the BBC. She is also a professional singer and teacher.