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Published 23 February 2017 by Susanne Dambeck

Membranproteinen ihre Geheimnisse entlocken

Vor ungefähr 2,3 Milliarden Jahren kam es „zum wohl größten Massensterben der Erdgeschichte“, so Hartmut Michel zu Beginn seines Vortrags auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung 2015. Er beschreibt die sogenannte Große Sauerstoffkatastrophe (englisch GOE, für Great Oxygenation Event), die sich ereignete, als erstmals große Mengen an freiem Sauerstoff in die Atmosphäre gelangten – für die Mehrzahl der damals existierenden Organismen ein tödliches Gift. Doch wie kam es dazu? Die Vorfahren der heutigen Cyanobakterien entwickelten die Photosynthese: Mit Hilfe von Licht, Wasser und Kohlendioxid stellten sie Sauerstoff und Kohlenhydrate in bislang nie dagewesenen Mengen her.

Hartmut Michel erhielt den Chemienobelpreis 1988 „für die Ermittlung der dreidimensionalen Struktur eines Photosynthesezentrums“, zusammen mit Johann Deisenhofer und Robert Huber. Das Nobelpreiskomitee nannte die Photosynthese „die wichigste chemische Reaktion auf Erden“, weil sie Atemluft und Nahrung für Mensch und Tier bereitstellt. Zudem ist sie für die Entstehung der meisten fossilen Energiequellen wie Kohle, Öl und Gas verantwortlich, allerdings mit ein paar Millionen Jahren Verzögerung.

Vor Milliarden Jahren standen die Kleinstlebewesen vor der Herausforderung, mit den großen Sauerstoffmengen zurechtzukommen. Außerdem mussten sie mit den Molekülen der sogenannten reaktive Sauerstoffspezies umgehen können (englisch ROS, für reactive oxygen species). Ein sehr effizienter Weg, freien Sauerstoff unschädlich zu machen, sind Sauerstoff-Reduktasen, also spezielle Enzyme, die Sauerstoff zu Wasser reduzieren. Sie werden auch Oxidoreduktasen genannt. Gleichzeitig helfen sie, die Energie zu speichern, die bei solchen Reaktionen freigesetzt wird. Seit über zehn Jahren analysiert Hartmut Michel nun solche Reduktasen am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt am Main, wo er seit 1987 Direktor ist.

 

Schematische Darstellung des Elektronentransport der inneren Mitochondrienmembran. Die Cytochrom-c-Oxidase ist Teil des Komplex IV. Grafik: T-Fork, auf der basis der Grafik von LadyofHats, beide public domain
Schematische Darstellung des Elektronentransports in der inneren Mitochondrienmembran. Die Cytochrom-c-Oxidase ist Teil von Komplex IV. Grafik: T-Fork, auf der basis der Grafik von LadyofHats, beide public domain

 

In den vergangenen Jahren analysierte Hartmut Michel zusammen mit seiner Forschungsgruppe vor allem zwei Sorten von Oxidoreduktasen: Die Superfamilie der Häm-Kupfer-Oxidasen und die Cytochrom-bd-Oxidase. All diese Oxidasen befinden sich in Membranen. Ein bekanntes Beispiel der Superfamilie ist die Cytochrom-c-Oxidase, das letzte Enzym im Elektronentransport der inneren Mitochondrienmembran (siehe Grafik oben). Diese Oxidase erhält jeweils ein Elektron von vier Cytochrom-c-Molekülen und transportiert diese zu Sauerstoffmolekülen. Aus diesen Zutaten werden zwei Wassermoleküle gebildet. Sie ist außerdem behilflich, zwei Protonen, die für die Bildung von ATP nötig sind, durch die Membran hindurch zu pumpen. „ATP ist die allgemeine Energiewährung des Lebens“, erklärt Michel in seinem Lindau-Vortrag von 2015. Wussten Sie, dass Ihr Körper täglich bis zu 75 kg ATP produziert, damit wir zum Atmen, Verdauen und Bewegen ausreichend Energie zur Verfügung haben? Außerdem müssen wir unsere Körpertemperatur halten, und es gibt viele weitere Prozesse im Körper, die viel Energie benötigen.

 

Hartmut Michel während seines Vortrags in Lindau beim 64. Nobelpreisträgertreffen 2014. Foto: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meeting
Hartmut Michel während seines Vortrags in Lindau bei der 64. Nobelpreisträgertagung 2014. Foto: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

Interessanterweise waren Oxidoreduktasen wohl bereits vorhanden, bevor sich freier Sauerstoff massenhaft in der Atmosphäre anreicherte. Aber welche Funktion hatten sie damals? Dieses ‘Paradox’ hat die Forschung bislang nicht aufklären können. Ein weiteres interessantes Ergebnis von Michel ist, dass sich die beiden Oxidase-Gruppen zwar strukturell deutlich unterscheiden, aber doch etliche Gemeinsamkeiten aufweisen: Beispielsweise transportieren beide Systeme häufig vier Elektronen gleichzeitig – so wird die Bildung von ROS effektiv verhindert. „Es scheint, als habe Mutter Natur dieselbe Erfindung gleich zweimal gemacht“, folgert Michel in seinem Vortrag.

Das photosynthetische Reaktionszentrum, für dessen Beschreibung Michel, Deisenhofer und Huber den Nobelpreis erhielten, ist ebenfalls ein Membranprotein – das allererste, dessen Struktur bestimmt werden konnte. Als Hartmut Michel noch Student in Tübingen und Würzburg war, galt die Lehrmeinung, dass Membranproteine grundsätzlich nicht kristallisiert werden können. Damals wie heute ist die Röntgenstrukturanalyse die beste Methode, um die molekulare Struktur, und damit die Funktion von Proteinen, zu ermitteln. Ohne Kristallisation kann sie jedoch nicht angewendet werden. Für die Entwicklung und Verbesserung der Röntgenstrukturanalyse wurden in den letzten hundert Jahren übrigens etliche Nobelpreise verliehen.

Doch Hartmut Michel wollte sich nicht mit der herrschenden Lehrmeinung abfinden. Also machte er sich daran, das erste Membranprotein zu kristallisieren. Ein großes Problem hierbei war die Tatsache, dass es sich bei diesen Proteinen eigentlich um eine Mischung aus Lipiden und Proteinen handelt, was dazu führt, dass sie teilweise hydrophob sind, also wasserabweisend, und sie deshalb nicht in wässrigen Flüssigkeiten gelöst werden können. Also braucht man Lösungsmittel, und Michel machte sich auf die Suche nach passenden sogenannten Detergenzien. Viele von ihnen bilden jedoch Mizellen. Das sind Zusammenballungen von Seifenmolekülen, die ihre hydrophilen Enden nach außen und die hydrophoben nach innen ausrichten. Der Nachteil hierbei ist, dass die gelösten Proteine in den dichten Mizellen ‘versteckt’ werden können.

 

Die Struktur eines Proteins mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse zu ermitteln ist ein aufwändiges Verfahren: Zunächst einmal muss das Protein kristallisiert werden, das ist bei Membranproteinen besonders schwierig. Dann wird mit Röntgenstrahlen ein Beugungsbild erstellt (diffraction pattern). Mit fortgeschrittener Analysis wird aus diesem Bild eine Elektronendichtekarte ermittelt, schließlich kann auch eine Struktur des Moleküls errechnet werden. Grafik: Thomas Splettstoesser, www.scistyle.com, CC BY-SA 3.0
Die Röntgenstrukturanalyse ist ein aufwändiges Verfahren: Zunächst einmal muss das Protein kristallisiert werden. Das ist bei Membranproteinen besonders schwierig. Dann wird mit Röntgenstrahlen ein Beugungsbild erstellt (diffraction pattern). Mit fortgeschrittener Analysis wird aus diesem Bild eine Elektronendichtekarte ermittelt. Schließlich kann auch die Struktur des Moleküls errechnet werden. Grafik: Thomas Splettstoesser, www.scistyle.com, CC BY-SA 3.0

Endlich fand Michel ein passendes Lösungsmittel, Heptan-1,2,3-triol, das kleinere Molekül-Verklumpungen bildet, sodass die Proteine herausgelöst, kristallisiert und analysiert werden können. Als nächstes musste er sich für ein bestimmtes Membranprotein entscheiden. Nach mehreren Fehlversuchen entschied er sich für das Purpurbakterium Rhodopseudomonas viridis, wörtlich „eine rote, falsche Zelle, die grün ist“. Diese Bakterien sind Photosynthese-fähig, genau wie Pflanzen, und ihr Reaktionszentrum hierfür kann isoliert werden. Auf diese Weise gelang Michel 1981 die Kristallisation des ersten Membranproteins.

Doch mit der Kristallisation war es nicht getan: Die Röntgenstrukturanalyse erfordert eine anspruchsvolle höhere Mathematik, um aus dem Beugungsbild der Röntgenstrahlen an den Elektronen des Kristalls eine dreidimensionale Struktur zu errechnen (siehe Schaubild rechts). Der Beitrag von Deisenhofer und Huber an diesem Projekt waren diese mathematischen Methoden. Die drei Forscher publizierten ihre Ergebnisse 1985. Nur drei Jahre später erhielten sie dafür den Chemienobelpreis. In den frühen 1980er Jahren brauchte Hartmut Michel noch ungefähr vier Monate, um einen kompletten Datensatz mit vielen Röntgenbildern zu erstellen. Heute entsteht ein solcher Datensatz automatisch innerhalb von Sekunden.

Seit dieser ersten Entdeckung entschlüsselten Forscher die Strukturen von über 600 Membranproteinen. Ungefähr fünfzig davon sind menschliche Membranproteine – doch es gibt insgesamt mehrere tausend! Hier ist also noch eine Menge zu tun.
Warum ist es überhaupt so wichtig, die Struktur und Funktion von diesen Proteinen zu kennen? 80 Prozent aller Arzneimittel wirken auf Membranproteine, und über 50 Prozent von ihnen haben diese Proteine als Zielstruktur. Das hat einen Grund: Sie spielen bei vielen Infektionen eine Schlüsselrolle, sowohl bei Viren als auch bei Bakterien, und sie sind an vielen Krebserkrankungen beteiligt. Diese Tatsache fasst Michel in seinem 2016er Lindau-Vortrag folgendermaßen zusammen: „Die meisten Krankheiten entstehen entweder durch eine Fehlfunktion, oder durch eine Über- oder Unterstimulierung eines bestimmten Membranproteins.“

Hartmut Michel ist ein langjähriger Unterstützer der Lindauer Nobelpreisträgertagungen. Er nahm bisher an zwanzig Tagungen teil, Videos seiner Vorträge finden Sie hier. Und er ist Mitglied im Kuratorium der Lindauer Nobelpreisträgertagungen. Wir freuen uns sehr, ihn im Juni 2017 bei der 67. Tagung, die dem Fach Chemie gewidmet ist, begrüßen zu dürfen.

 

 

 

Susanne Dambeck

Susanne Dambeck is a science writer in English and German, and author of several nonfiction childrens' books. A political scientist by training, she has worked in politics, television and as a biographer. Apart from scientific findings, she is interested in people and in storytelling in different languages.