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Veröffentlicht 3. Juli 2012

Martinus Veltman, das Higgs-Boson und die Grenzen der Experimente

Was ich über das Standardmodell der Teilchenphysik weiß, verdanke ich vor allem einem Buch – dem sehr empfehlenswerten „Facts and Mysteries in Elementary Particle Physics“ des Physik-Nobelpreisträgers Martinus Veltman. Nun, ein paar Jahre später, scheint mit dem Higgs-Boson der Schlussstein des Standardmodells zum greifen nahe, und für mich gibt es zu dieser Gelegenheit keinen besseren Gesprächspartner. Nun hatte ich also die Möglichkeit, den Meister selbst zu fragen, was er vom aktuellen Gewese um die LHC-Daten hält.

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Martinus J. G. Veltman. Bild: Markus Pössel

Seine Meinung zur anstehenden Pressekonferenz des CERN ist jedenfalls eindeutig: „Was CERN da macht ist – ich würde sagen, richtig doof“. Ein unnötiger PR-Stunt sei das. Seiner Meinung nach ist es absolut nicht die Aufgabe des CERN, eine solche Pressekonferenz zu organisieren. “ Die Aufgabe des CERN ist, Wissenschaftlern die Möglichkeit zu ihren Experimenten zu geben und sie dabei zu unterstützen“, Ergebnisse verkünden sollten lieber die Wissenschaftler, die dafür auch gerade stehen müssen. Ob er denn nicht glaubt, werfe ich ein, dass CERN aus dem Debakel mit den überlichtschnellen Neutrinos gelernt hat und diesmal weniger forsch daherbehauptet? Aber er fragt nur milde, wenn sie schon Peter Higgs einladen, ob ich mir vorstellen kann, dass sie dann nicht auch verkünden, sie hätten sein berühmtes Boson festgenagelt? Da hat er Recht.

 

Risiko Pressekonferenz?

Prinzipiell, sagt Veltman, hat er nichts dagegen, dass Wissenschaftler spektakuläre Ergebnisse mit großer Fanfare verkünden. Aber einen Gefallen täten sich die Forscher damit oft nicht: „Schauen Sie sich doch die Affäre um die überlichtschnellen Neutrinos an: Es hat ihnen sicher nicht geholfen.“ Für die OPERA-Wissenschaftler hatte der Vorfall unerfreuliche Folgen – der Leiter der Kollaboration musste sich sogar von seinem Posten zurückziehen. Wir reden ein Bisschen über ähnliche Fälle in anderen Fachgebieten. Auch die vermeintliche Entdeckung der Arsen-Bakterien wäre für die beteiligten Forscher sicher glimpflicher ausgegangen, hätte die NASA ihnen nicht die inzwischen berüchtigte Pressekonferenz spendiert. Man kann nur hoffen, dass dem LHC-Team nicht vergleichbares passiert.

Natürlich ist auch Martinus Veltman gespannt auf die LHC-Daten. Aber auch wenn sich das Higgs-Boson als real erweist, löst das nicht die eigentlichen Probleme der Teilchenphysik, erklärt er. “ Das Higgs-Boson ist ja ein vergleichsweise einfacher Untersuchungsgegenstand, man sagt es voraus, und dann macht man ein großes Experiment und dann findet man das Higgs. Aber die großen wichtigen Fragen funktionieren nicht so einfach.“

Als Beispiel zitiert er dann eine der grundlegenden Eigenschaften des Standardmodells, die drei Teilchengenerationen um die sechs Quarks. Warum ist das genau so? „Wir haben kein Experiment das diese Frage beantworten könnte.“ Genauso wenig ist die Physik in der Lage, die enorme Spannbreite der Teilchenmassen zu erklären, von den fast masselosen Neutrinos bis zum millionenfach schwereren Top-Quark. Auch diese Werte muss man beim gegenwärtigen Stand als gegeben hinnehmen, und Veltman scheint nicht davon auszugehen, dass die Entdeckung des Higgs-Bosons daran etwas ändern wird.

„Die String-Theorie ist tot!“

Von den großen Theoriegebäuden, die Forscher erdacht haben, um solche grundlegenden Fragen zu entschlüsseln, hält er auch nichts. „Die String-Theorie ist im Grunde tot“, sagt er. Sie habe nie irgendetwas dazu beigetragen, diese grundsätzlichen Fragen zu klären. Das Gleiche, erklärt er, gilt für die Supersymmetrie. Auch die habe nie geliefert, was ihre Fans versprechen, im Gegenteil. „Es hieß vor einer Weile, wenn wir den Messbereich so und so erweitern, finden wir Indizien für die Supersymmetrie. Aber gekommen ist dann nichts – wir haben bis heute nichts was auch nur nach Supersymmetrie riecht.“

Im Grunde, sagt Veltman, ist das ein typisches Muster: Wissenschaftler erweitern seit Jahren die Messbereiche ihrer Beschleuniger, um an die wirklich grundlegenden Fragen experimentell heranzukommen, aber bisher habe keiner der Beschleuniger diesen Anspruch erfüllen können. Die Teilchenphysik hat zwar viele interessante Sachen gefunden, aber nie das, wofür sie die jeweilige Maschine eigentlich gebaut haben. Dieser Gedanke amüsiert ihn ganz offensichtlich. „Wenn sie jetzt tatsächlich das Higgs gefunden haben, ist der LHC meines Wissens der erste Beschleuniger überhaupt, der tatsächlich das geliefert hat, wofür er gebaut wurde.“

Für die Teilchenphysik ist die Entdeckung des Higgs-Bosons auf jeden Fall ein großer Erfolg und das Sahnehäubchen auf dem Standardmodell der Teilchenphysik. Das Problem allerdings wird immer mehr, dass das Standardmodell selbst mehr Fragen aufwirft als es beantwortet, wenn es wirklich ans Eingemachte geht: Zu viele freie Parameter muss man als gegeben hinnehmen und auch für die Struktur des Systems selbst gibt es keine tiefere Erklärung – und es ist immer weniger klar, wo sie herkommen soll. Vielleicht, so Veltman, müssen wir irgendwann akzeptieren, dass es über einen bestimmten Punkt hinaus keine Experimente mehr gibt, mit denen man mögliche Erklärungen untersuchen kann. „Aber andererseits wird die Physik auch in Zukunft Schritt für Schritt weiter ins Unbekannte forschen“, meint er, „und vielleicht bekommen wir dann doch noch unsere Antworten.“