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Veröffentlicht 8. Juli 2015 von Harald Martenstein

Harald Martenstein unter Nobelpreisträgern: Der Mensch ist ein offenes Buch, wer darf darin lesen?

Die Französin Francoise Barré-Sinoussi hat, zusammen mit ihrem Kollegen Luc Montagnier, das HIV-Virus entdeckt. Wie die meisten Nobelpreisträger in Lindau hält sie nicht nur eine Vorlesung, sondern stellt sich auch für eine lockere Gesprächsrunde mit Nachwuchswissenschaftlern zur Verfügung. Das ist ja der Sinn der Lindauer Konferenz, die Stars sollen mit dem Nachwuchs in Kontakt kommen und die jungen Leute inspirieren. Auf die 65 Nobelpreisträger kommen etwa 650 junge Forscher aus fast 90 Ländern.

Barré-Sinoussi sagt, dass die Zeit, in der sie ihre große Entdeckung machte, die unglücklichste Zeit ihres Lebens gewesen ist.
Es hatte sich damals, Anfang der 80er Jahre, unter den Aidskranken herumgesprochen, dass in Paris an der geheimnisvollen neuen Krankheit geforscht wird. Vor allem aus den USA kamen viele Patienten, sie kamen direkt zu ihr, ins Labor, und fragten: „Was ist mit mir? Was können Sie für mich tun?“ Es waren Sterbende, sagt Barré-Sinoussi. Sie waren in einem furchtbaren Zustand. Ich hatte damals noch nie jemanden sterben sehen. Und sie gingen aus dem Labor nicht freiwillig weg. „Ich musste spät am Abend einen Kollegen rufen, der sie irgendwie in ein Krankenhaus bringt.“ Viele aus ihrem Forscherteam litten damals unter Depressionen. „Auch wir wurden alle krank“, sagt Barré-Sinoussi.

 

Foto: A. Schröder/Lindau Nobel Laureate Meetings
Foto: A. Schröder/Lindau Nobel Laureate Meetings

Der Israeli Aaron Ciechanover, Nobelpreis für Chemie 2004, kann etwas über die Revolution der Medizin erzählen, die zur Zeit im Gang ist. Jahrtausendelang haben die Ärzte Krankheiten behandelt, das war der Job. Seit der Entschlüsselung des Genoms sind wir immer besser in der Lage, Krankheiten vorherzusagen. Aus der heilenden ist eine vorhersagende und vorbeugende Medizin geworden. Fast jeder kennt den Fall der Schauspielerin Angelina Jolie, die sich ihre Brüste hat amputieren lassen. Es war nahezu sicher, dass sie in einigen Jahren Brustkrebs bekommen hätte.

Weniger bekannt ist der dritte Trend der neuen Medizin, die  Personalisierung. „Beim Brustkrebs“, erzählt Ciechanover, „spricht die eine Patientin auf eine bestimmte Chemotherapie hervorragend an, sie überlebt, sogar, wenn der Krebs schon fortgeschritten war. Eine andere Patientin, gleicher Krebs, gleiche Therapie, stirbt innerhalb kurzer Zeit.“ Inzwischen weiß man, dass so etwas kein Zufall ist, kein Schicksal, und auch nichts mit einem „besonders aggressiven“ Krebs zu tun haben muss.. Jeder Mensch ist anders, jeder Krebs ist anders. In den kommenden Jahren wird man verschiedene Patienten mit der gleichen Krankheit sehr unterschiedkich behandeln.

Wir sind in einer extrem aufregenden Phase der Medizingeschichte, sagt Chiechanover. Es geht schnell voran. Manche haben Angst davor, ihre Gene entschlüsseln zu lassen – will ich wirklich wissen, ob ich in ein paar Jahren Krebs haben werde? Es kann natürlich auch sein, dass die Botschaft überraschend angenehm ist. Es kann sein, dass der Vater und die Mutter an Krebs gestorben sind, und dass ihr Kind trotzdem diese Veranlagung nicht in sich trägt, das kommt durchaus vor, so, wie zwei schwarzhaarige Eltern manchmal ein rothaariges Kind haben.

 

Foto: R. Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings
Foto: R. Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings

Wenn aber der Mensch ein offenes Buch ist, wer darf darin lesen? Ciechanover sagt, dass Arbeit auf die Gesetzgeber zukommt. Was darf der Arbeitgeber wissen, die Versicherung, müssen Eltern ihren Kindern verraten, was sie über ihre Veranlagungen wissen?

In 50 Jahren, das ist bei diesem Tempo der Forschung nahezu sicher, wird fast niemand mehr an Krebs sterben müssen. Auch das HIV-Virus wird besiegt sein. Es kann natürlich sein, dass wir Menschen uns bis dann in einem Atomkrieg ausgerottet haben, oder dass ein Supervulkan uns alle fertig macht. Trotzdem, falls Sie zufällig sind:  Ein gewisser Grundoptimismus ist angebracht.

Harald Martenstein

Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, studierte Geschichte und Romanistik in Freiburg. Er ist Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. Seit 2002 schreibt Martenstein Kolumnen für die ,,Zeit", die auch in Buchform erscheinen.Zuletzt erschien die Kolumnensammlung "Die neuen Leiden des alten M.". Daneben veröffentlichte er die Romane "Heimweg" (2007) und "Gefühlte Nähe" (2010) sowie den Reportagenband "Romantische Nächte im Zoo" (2013). Für seine journalistische Arbeit erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Theodor-Wolff-Preis, für seine Romane unter anderem den Georg K. Glaser-Preis. Martenstein lebt in der Uckermark und in Berlin.