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Veröffentlicht 4. Juli 2012 von Markus Pössel

Es tut sich etwas in der Teilchenphysik

Ich muss gestehen: Obwohl ich mich sehr auf diese Lindauer Tagung gefreut habe, an die Teilchenphysik hatte ich keine allzu großen Erwartungen. In letzter Zeit hat sich bei den Grundlagen des Standardmodells der Teilchenphysik nicht viel getan. Das hatte ich bereits 2010 gemerkt, als der zusammenfassende Vortrag von David Gross in ziemlich identischer Form bereits vor rund 10 Jahren hätte gehalten werden können. Und auch die für Mittwoch angesetzte Pressekonferenz „Wir haben ein Teilchen gefunden, müsste eigentlich das Higgs sein, aber genau können wir es erst in einem halben Jahr sagen, wenn wir genügend Informationen über die anderen Zerfallsreaktionen haben“, die live in den Lindauer Tagungsraum übertragen wird, ist bei genauerem Hinsehen nicht sehr spannend. Wie Martinus Veltman es Dienstag vormittag in seinem Vortrag ausdrückte: damit wird nur die Tür hinter dem Standardmodell der Teilchenphysik zugemacht.

Wirklich Neues hat man direkt durch die Entdeckung des Higgs soweit ich sehen kann nicht gelernt,  insbesondere nichts, das einem die Richtung hin zur Lösung der verbleibenden offenen Fragen weisen würde, z.B.: Warum gibt es gerade drei Familien von Elementarteilchen? Was ist mit den vielen freien Parametern des Modells? Gibt es eine zugrundeliegende Systematik? Wie sieht Physik jenseits des Standardmodells aus, z.B. eine Erklärung der Dunklen Materie?

Insofern fand ich Carlo Rubbias Vortrag am Dienstag, der den Titel „Neutrinos: a Golden Field for Astroparticle Physics“ trug, sehr erfrischend.

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Rubbia ist nun nicht gerade mit Arbeiten mit Neutrinos bekannt geworden, sondern mit klassischen Teilchenbeschleunigern: Teilchen aufeinanderjagen, die Energie heraufschrauben und sehen, was daraus wird. (Sein Sohn, André Rubbia, hat sich an der ETH dann allerdings ganz auf die Neutrinos geworfen.) Aber gerade um die Neutrinos ging es in dem besagten Vortrag. Weil sich da eben derzeit etwas zu tun scheint.

Ich erinnere mich noch, dass damals doch einige Aufregung herrschte, als um die Jahrtausendwende klar wurde,  dass Neutrinos offenbar doch keine Teilchen ohne Ruhemasse sind (dann müssten sie sich immer so schnell wie das Licht bewegen, genau wie Photonen), sondern dass sie eine Masse besitzen und dass die Natur diesen Umstand nutzt, um verschiedene Neutrinosorten ineinander umzuwandeln. Damit war zum einen das sogenannte Sonnenneutrino-Problem gelöst (wie ich hier näher beschrieben habe), dass die Forscher schon länger gewurmt hatte.

Zum anderen, und das ist mir erst in Rubbias Vortrag richtig bewusst geworden, war damit auch die Möglichkeit einer neuartigen Erweiterung des Standardmodells gegeben, denn auf die gleiche Weise, wie sich die herkömmlichen drei Sorten von Neutrinos ineinander umwandeln können, kann man auch noch weitere Neutrinosorten ins Spiel bringen. Die dürfen zwar nicht an irgendwelchen anderen Wechselwirkungen teilnehmen (normale Neutrinos wurden ja lange vor dem direkten Nachweis postuliert, um bestimmte radioaktive Zerfälle zu erklären), sind also „steril“. Aber wenn sie existieren, können sonderbare Dinge geschehen. Wenn sich normale Neutrinos in solche sterilen Neutrinos umwandeln, sind sie für herkömmliche Nachweisreaktionen schlicht verschwunden.

Solche Messwerte und ein paar andere scheint es inzwischen einige zu geben, und das von unterschiedlichen Experimenten und in unterschiedlichen Zusammenhängen. Die Details findet man in diesem White Paper, auf das Rubbia auch mehrmals verwies. Insgesamt sind diese Messungen noch nicht soweit, dass sie den Standards der Teilchenphysik genügen würden. Dort hat man sich darauf geeinigt, eine Messung zu akzeptieren, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Zufallseffekte zu dem gemessenen Ergebnis führen, bei weniger als 0,000057% liegen („5 Sigma“). Das war ja auch beim Higgs-Partikel der Grund für das weitere Warten: Dort hatte man zwar ebenfalls schon seit eingier Zeit ziemlich klare Hinweise auf die Existenz eines Teilchens mit einer Ruhemasse um die 125 GeV gehabt. Aber zu den entscheidenden 5 Sigma hatte es nicht gereicht. Die dürften eben das sein, was bei der jetzt bevorstehenden Pressekonferenz bekanntgegeben wird.

Die bisherigen Hinweise auf sterile Neutrinos erreichen das 5-Sigma-Niveau jedenfalls noch nicht. Und wenn sie sich bestätigen, kann es natürlich sein, dass wir damit wieder feststecken, diesmal bei einer etwas größeren Version eines Standardmodells der Teilchenphysik. Aber andererseits käme mit den sterilen Neutrinos definitiv etwas neue Struktur dazu, und vielleicht findet daraufhin ja irgendjemand eine Systematik, mit der sich die Eigenschaften des Standardmodells zumindest zum Teil besser verstehen lassen? Solche strukturellen Neuigkeiten und die Chance, dass sich daraus echter Fortschritt ergibt, kann eine Higgs-Entdeckung alleine nicht bieten. Und daher finde ich die sterilen Neutrinos derzeit deutlich aufregender als das, was wir vom CERN zu hören erwarten können (es sei denn, es gäbe doch noch eine Überraschung?) – allem Hype um das Higgs, der jetzt über uns hereinbrechen dürfte, zum Trotz.

 

 

Markus Pössel