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Veröffentlicht 28. Juni 2010

Die Mikrobe aus der Retorte

Zu den Geistern, die dieses Jahr über den Wassern des Bodensees schweben, gesellt sich dieses Jahr einer, den wir zweifellos bald auch in körperlicher Form in Lindau begrüßen dürfen: Über den Genetiker J. Craig Venter und seine neueste Kreation wird viel geredet werden, wenn die bedeutendsten Wissenschaftler unserer Zeit mit der nächsten Forschergeneration diskutieren.

Und natürlich auch beim Vortrag von Hamilton Smith, der sich heute Nachmittag mit eben diesem Thema befassen wird. Einerseits ist schon beeindruckend, mit welchen Tricks die Wissenschaftler das synthetische Chromosom in den Wirtsorganismus transplantiert haben, aber der Titel des Vortrags – „Building a Synthetic Bacterial Cell“ – deutet schon darauf hin, dass Smith einen Blick in die Zukunft und auf Potential und hoffentlich auch die Grenzen der Technik wirft. Denn noch ist es ein weiter Weg zu einem wirklich menschengemachten Organismus.

Wie künstlich das eingesetzte Chromosom wirklich ist, schon darüber kann man streiten. Das Makromolekül ist zwar künstlich erzeugt, die  Gene darauf allerdings wurden allesamt vom Vorbildbakterium übernommen. Aber noch ernüchternder sind hier die Vorträge jener Laureaten, die sich mit Zellkomponenten über die DNA hinaus beschäftigen. Denn auf der Tagesordnung stehen einige zelluläre Systeme, die ungleich komplexer sind als das Erbgut und ebenso unverzichtbar für einen künstlichen Organismus.

Zum Beispiel das Ribosom, das uns heute Morgen Ada Yonath erläutert hat, die auf diesem Gebiet gewisse Expertise vorweisen kann. Das Ribosom ist das zentrale Verbindungselement zwischen den Erbmolekülen und dem Rest der Zelle, und außerdem ein kurioses supramolekulares Aggregat aus Nucleinsäure und Proteinen, für dessen Strukturaufklärung erst letztes Jahr der Nobelpreis verliehen wurde.

Vom anderen Ende des Lebenszyklus der Proteine erzählt Aaron Ciechanover, der die Ubiquitin-abhängigen Peptidentsorgung aufgeklärt hat – ebenfalls ein unerwartet vielseitiger und vor allem präziste gesteuerter Vorgang. Wie wichtig eine korrekt funktionierende Abfallbeseitigung ist, kann jeder bezeugen, der schon mal ein verstopftes Klo erleiden musste. Zwischen Werden und Vergehen der Proteine nehmen diese Biomoleküle nahezu alle Funktionen der lebenden Zelle wahr, in einem molekularen Tanz, über dessen Details wir nur schmerzhaft wenig wissen.

Ein solches Detail ist die posttranslationale Modifikation von Proteinen, ohne die in der Zelle kaum ein Signalweg funktionieren würde, und über die wir an Dienstag von Edmond Fischer ein wenig hören werden, ein anderer das große und wichtige Thema Membranen und ihr Aufbau. Das ist auch das Thema von Jack Szostak auf dieser Nobelpreisträgertagung, der an Vesikeln und Membranen forscht, um eine künstliche Zelle basierend auf einfacher chemischer Selbstorganisation zu entwerfen – quasi der direkte Gegenentwurf zu Craig Venters Top-Down-Ansatz. Über seinen Vortrag werde ich hier noch ausführlich berichten.

Die bemerkenswerten Erfolge moderner DNA-Technologie einige Wissenschaftler und vor allem viele Beobachter zu verführen, die Komplexität des chemischen Phänomens, das wir Leben nennen, zu unterschätzen. Ganz zu schweigen von den Hindernissen, die auf jene warten, die es mit chemischen und molekularbiologischen Methoden nachbauen wollen.

Szostak zum Beispiel zitiert den Chemiker Leslie Orgel. Der hatte vor einer Weile prophezeiht, innerhalb einer Dekade würden selbstreplizierende chemische Systeme künstlich hergestellt werden. Das ist jetzt zwanzig Jahre her, und wir warten immer noch.