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Veröffentlicht 15. Juni 2010 von Markus Pössel

Lindau, das Testament, und überhaupt

Manchmal sind Menschen doch einigermaßen berechenbar. So fühlte ich mich jedenfalls, nachdem ich für meinen ersten Beitrag als einer der "Blogger in residence" beim diesjährigen Lindauer Nobelpreisträgertreffen begonnen hatte, meine Gedanken niederzuschreiben: Meine Erwartungen. Glamour; seine Rolle in der Wissenschaft; die besondere Glamourträchtigkeit von Nobelpreisen. Die automatische kritische Frage, warum man ein Treffen entlang dieses Nobelpreisglamours organisiert, obwohl man dabei einige interessante Wissenschaftsgebiete ganz oder teilweise ausklammert — die Biologie, die auf dem Umweg über Chemie und Medizin quasi nur durch den Nebeneingang zugelassen ist, oder die Mathematik, oder interessante Themen aus der Informatik.

Dann schaute ich, was die Blogger des Vorjahres eigentlich so geschrieben haben, und fand, dass das meiste von dem, was ich mir zusammengereimt hatte — und einiges mehr etwa zur Vorgeschichte der Lindauer Treffen — dort schon viel ausführlicher und netter bebloggt worden war.

Was macht der moderne Mensch in einer solchen Situation? Er geht erst einmal spazieren, und sei es virtuell im WWW. Und wie einem ja gelegentlich auch bei einem physischen Spaziergang das Unbewusste die Schritte lenkt, fand ich mich früher als erwartet auf www.nobelprize.org wieder, und kurz darauf bei dem Dokument, mit dem alles begonnen hatte: Alfred Nobels Testament und letzter Wille.

Nach einigen Schlaglichtern auf das Privatleben des Stifters (von ehemaligem Gärtner und ehemaligem Diener, die jeweils Pensionen erhalten, bis hin zu einer Reihe namentlich genannter Verwandter und Bekannter sind dort zuerst die Personen aufgeführt, denen Nobel persönlich eine Hinterlassenschaft zugedacht hatte) folgt der Absatz, der die Medaillen ins Rollen brachte. Und es folgt eine Überraschung, zumindest für mich, denn dort werden Preise gestiftet, die jährlich diejenigen Wissenschaftler aus Physik, Chemie und Medizin auszeichnen sollen, deren Entdeckungen im Vorjahr der Menschheit den größten Nutzen beschert haben. Als an der Teilchenphysik interessierter Mensch habe ich in den letzten Jahren verfolgt, wie das Physik-Preiskomitee seine Sammlung von Pionieren des Standardmodells der Elementarteilchenphysik (das inzwischen auch 30-40 Jahre auf dem Buckel hat) vervollständigt hat. Mir war also durchaus bewusst, dass Nobelpreise in der Regel allenfalls für Arbeiten aus dem Vor-Jahrzehnt vergeben werden, und meistens mit noch deutlich größerem zeitlichen Abstand. Wikipedia führt aus, dass die Preisverleiher sich nach (mindestens) einer etwas zweifelhaften, da übereilten Verleihung entschlossen hatten, zwischen Forschung und Nobelpreis deutlich mehr Zeit verstreichen zu lassen, um nur solche Leistungen zu ehren, deren Bedeutung auch auf lange Sicht Bestand hat.

Ralf Pettersson, ehemaliger Vorsitzender des Nobelpreiskomitees für Physiologie/Medizin, erklärt dazu in diesem Interview, in der heute gültigen Interpretation sei "das Vorjahr" zu verstehen als "das Jahr, in dem der Einfluss der Entdeckung offensichtlich wurde" ("the year when the full impact of the discovery has become evident"). Das scheint mir arg bemüht. Dann lieber ehrlich zugeben: Was zählt ist, was draus geworden ist. Und in diesem Falle hat die Abkehr von des Stifters Vorjahres-Regel und die Konzentration auf langfristig wichtige Ergebnisse wesentlich zum guten Ruf der Preise beigetragen. Und da schließt sich der Kreis zu meinem vorbereitenden Nachdenken über das Lindauer Treffen, und ich lege meine Gedanken zu Motivation und Konzeption des Treffens erst einmal ad acta. Was zählt ist, was draus geworden ist. Und das ist, nach allem, was man hört und liest: ein Treffen vieler an Wissenschaft interessierter Menschen (einige davon mit Nobelpreis), ein anregendes Umfeld, stimulierende Vorträge. Ich bin gespannt!

Markus Pössel