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Veröffentlicht 7. Juli 2014 von Hanno Charisius

Künstliche Gene, künstliche Zellen, künstliches Leben

Die Natur hat etwa eine Milliarde Jahre gebraucht, bis die ersten einfachen Einzeller im Urmeer der noch jungen Erde herum schwammen. Forscher wollen jetzt auch Leben schaffen – schneller und besser.

Hamilton Smith (Nobelpreis Chemie 1978 mit Werner Arber und Daniel Nathans) beginnt seinen Vortrag mit dem Zitat eines andere Nobelpreisträgers, Richard Feynman (Physik, 1965):

„What I cannot create, I do not understand.“

Feynman meinte damit wahrscheinlich physikalische Modelle. Smith redet von lebenden Organismen. In seinem Labor im J. Craig Venter Institute versucht er künstliche Zellen zu erschaffen. Für ihn ist es der beste Weg, um zu verstehen, wie biologisches Leben auf der Erde wirklich funktioniert. „Wenn wir das schaffen, werden wir verstehen.“

Zwar kennen wir inzwischen alle Gene des Menschen. Wie aber aus dem Erbmolekül DNA ein ganzer Mensch erwächst, der laufen, atmen, essen, forschen, lieben, Nobelpreise bekommen und Nobelpreise verleihen kann, das versteht bis heute niemand. Nicht einmal bei Einzellern ist das bislang vollständig geklärt. Selbst in den einfachsten Bakterien gibt es eine Menge Erbanlagen die scheinbar keine Funktion haben, oder nicht unbedingt notwendig sind fürs Überleben. Im Laufe der Evolution haben sich genetische Altlasten angesammelt, die vielleicht einmal nützlich waren, aber durch Mutationen nutzlos geworden sind. Manche Gen-Fragmente wurden durch Viren ins Erbgut geschmuggelt, andere entstanden durch eine zufällige Verdoppelung von Abschnitten. Es gibt viele molekularen Mechanismen, die Abwechslung ins Erbgut bringen und so Evolution erst ermöglichen. Aber vieles davon ist eben auch überflüssig geworden.

Hamilton O. Smith 2014 in Lindau ©Rolf Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings
Hamilton O. Smith 2014 in Lindau ©Rolf Schultes/Lindau Nobel Laureate Meetings

Smith versucht momentan das Erbgut von Mycoplasma mycoides zu entrümpeln, einer Mikrobe, die normalerweise im Verdauungstrakt einiger Wiederkäuer lebt. Ursprünglich wollten er und sein Team in den Erbanlagen von Mycoplasma genitalium aufräumen, dem Bakterium mit den wenigsten Genen, das bislang bekannt ist. Mehr als 475 Gene braucht es nicht zum Leben. Hundert davon hält Smith mindestens für überflüssig. Allerdings teilt sich M. mycoides mit seinem fast doppelt so großen Genom schneller und so kommen die Experimente schneller voran. Denn zum Aufräumen müssen die Forscher ein Gen nach dem anderen ausschalten und dann beobachten, welchen Effekt das auf die Mikrobe hatte. Dazu muss man sie wachsen lassen. Je langsamer sie sind, desto länger müssen Wissenschaftler auf ihr Ergebnis warten.

Smith teilt die Erbanlagen in drei Kategorien ein:

  • Lebenswichtig,
  • nicht lebenswichtig aber notwendig für schnelles Wachstum und
  • unwichtig.

Alle Gene aus der letzten Gruppe sollten löschbar sein, ohne dass es einen negativen Einfluss hat auf die Mikroben. Bei den wichtigen aber nicht überlebenswichtigen Erbinformationen, müssen die Forscher sehr genau abwägen, was sie damit machen.

Wenn die Arbeit fertig ist, soll ein Bakterium übrig bleiben, das sich noch immer zügig vermehren kann – zumindest im Labor wo es keine Konkurrenten gibt, gegen die sich die Mikrobe durchsetzen müsste aber Nahrung im Überfluss vorhanden ist und immer Wohlfühltemperatur herrscht. 50 Prozent weniger Gene als das Original soll die Labormikrobe später einmal zu ihrem sparsamen Leben brauchen und sich dabei aber noch wenigstens einmal innerhalb von 100 Minuten teilen.

Was gelb ist kann raus, sagt Hamilton Smith. Das chaotische Genom vor dem Aufräumen ... Bild: Screenshot aus H. Smiths Vortrag
Was gelb ist, kann raus, sagt Hamilton Smith. Das chaotische Genom vor dem Aufräumen … Bild: Screenshot aus H. Smiths Vortrag in Lindau 2014

Während seines Vortrags auf der Nobelpreisträgertagung in Lindau bezeichnete Smith den evolutionären Ballast als „Spaghetticode“, eine Begriff aus der Programmierer-Szene. Er beschreibt Programmcode für Computer, der zwar irgendwie funktioniert, aber insgesamt konfus aufgebaut ist, zum Beispiel nachdem über Jahre hinweg viele verschiedene Programmierer daran herumgebastelt haben. „Refactoring“ wird der Prozess genannt, bei dem sich irgendwann, wenn ein Programm nicht mehr durchschaubar ist und damit auch nicht mehr weiter entwickelt werden kann, ein Programmierer hinsetzt und im Code aufräumt. Und genau das macht Smith mit seinem Team derzeit mit dem Lebenscode eines Bakteriums. Er will den genetischen Programmcode von Mycoplasma mycoides soweit entschlacken, bis ein Erbgutsatz übrig bleibt, der nur noch die allernotwendigsten Gene enthält, die Minimalausstattung des Lebens.

... und danach. Bild: Screenshot aus H. Smiths Vortrag
… und danach. Bild: Screenshot aus H. Smiths Vortrag

Überhaupt benutzt Smith gerne Computermetaphern, um seine Arbeit zu erklären. Das Erbgut der Organismen vergleicht er mit der Software, der Rest sei die Hardware, die durch das im Biomolekül gespeicherte Programm kontrolliert werde. Sobald man einer Zelle ein neues genetisches Programm verpasse, fange sie an, es abzuspielen.

Um ihre Designer-Programme zu testen, ersetzen Smiths Mitarbeiter das Original-Erbgut von Bakterien durch künstlich hergestellte DNA, die das Minimalprogramm enthält. Bislang hat die alte Hardware diese Art von System-Update allerdings noch nicht angenommen. „Debugging“ wird die Fehlersuche im Computercode genannt. Damit werden Smith und seine Mitarbeiter nun noch eine Weile beschäftigt sein.

Ihre bisherigen Fortschritte zeigen aber, dass es ihnen gelingen kann. Zuletzt sorgten die Forscher vor vier Jahren für Aufsehen, als sie ein Bakterium mit Erbgut zum Leben erweckt hatten, das sie zuvor vollständig am Computer entworfen hatten und dann im Labor von Synthesemaschinen aus den vier chemischen Grundbausteinen der DNA zusammensetzen ließen. Das Erbgut das sie verwendeten war allerdings lediglich eine Kopie des gewöhnlichen Mycoplasma mycoides mit ein paar Abwandlungen. Sie veränderten die Abfolge der DNA-Bausteine an einigen Stellen, um anhand dieser genetischen Wasserzeichen beweisen zu können, dass ihr künstliches Genom und nicht das natürliche die Zellen steuert. Das Kunst-Erbgut schleusten sie in eng mit Mycoplasma mycoides verwandte Bakterien ein, wo es wie beabsichtigt die Kontrolle über die Zellen übernahm.

Dieses Experiment galt als Meilenstein auf dem Weg zum künstlichen Leben, weil es die Software-Metapher so klar erfüllte. Synthetische Biologie wird diese neue Ingenieursdisziplin genannt, die das Ziel hat, vollkommen neue Organismen zu schaffen. Bis vor kurzem konnten Biotechnologen nur relativ kleine Veränderungen im Erbgut von Organismen vornehmen. Zum Beispiel Gene heraus nehmen oder neue hinzufügen, um Bakterien, Pflanzen oder Tieren neue Eigenschaften zu geben. Meistens bekommen sie so die Fähigkeit verliehen, ein Protein herzustellen, für das sich der Forscher oder die Industrie gerade interessiert. So wurden vor allem Bakterien zu Produktionsstätten von Medikamenten und anderen wertvollen Substanzen.

Komplizierter wird es, wenn man kein Protein herstellen möchte, sondern eine andere Substanz. Deshalb war es eine ziemliche Sensation, als im Jahr 2006 zum ersten Mal mit mehreren Genen gleich ein ganzer Stoffwechselweg in einen Mikroorganismus verpflanzt wurde. Die so ergänzten Hefe-Zellen waren danach in der Lage, Artemisininsäure herzustellen, aus der auf recht einfache Weise der Wirkstoff Artemisinin gewonnen werden kann, ein Medikament gegen Malaria. Die Verpflanzung eines ganzen künstlich hergestellten Genoms war da der nächste logische Schritt, auch wenn die dabei entstandenen Bakterien bisher nichts sinnvolles hergestellt haben.

Hinter all diesen Entwicklungen stecken gleich mehrere bereits nobelpreisgewürdigte Entdeckungen. Eine Auswahl: Arthur Kornberg teilte sich den Preis für Physiologie 1959 mit Severo Ochoa. Sie hatten herausgefunden, dass molekulare Kopiermaschinen, die sogenannten Polymerasen dafür verantwortlich sind, dass vor der Zellteilung das Erbmaterial verdoppelt wird. Für die erste Beschreibung der Struktur der berühmten DNA-Doppelhelix bekamen James Watson und Francis Crick 1962 ihren Nobelpreis. 1978 folgten Hamilton Smith, Werner Arber und Daniel Nathans für die Entdeckung der sogenannten Restriktionsendonukleasen. Das sind Enzyme, die das Erbgut an exakt festgelegten Stellen wie eine molekulare Schere zerschneiden. Zwei Jahre später teilten sich Paul Berg, Walter Gilbert und Frederick Sanger den Preis. Gilbert und Sanger hatten Methoden entwickelt, um die Abfolge der DNA-Bausteine zu analysieren. Diese Sequenziertechnologie und vor allem der dramatische Preisverfall in diesem Gebiet ermöglichen all die vielen hundert Genom-Studien, die jeden Monat in Fachzeitschriften publiziert werden. Berg war der erste, der Erbmaterial verschiedener Organismen miteinander kombinierte. Er gilt als einer der Begründer der Gentechnik, war aber auch einer der ersten, der vor den Gefahren dieser Technologie warnten. Er war Mit-Initiator der berühmten Konferenz von Asilomar, auf der die führenden Molekularbiologen 1975 ein freiwilliges, mehrjähriges Moratorium für die Arbeit mit potenziell gefährlichen Genabschnitten beschlossen. 1986 schließlich bekam Kary Mullis die Ehrung für die Entwicklung eines Verfahrens, mit dem man im Labor massenhaft DNA herstellen kann.

Ohne all diese und noch viel mehr Werkzeuge könnten Smith und seine Kollegen heute nicht ihren Plan verfolgen, Leben zu erschaffen. Sie wollen es aber nicht nur verstehen, sie wollen es auch nutzen. Die Minimalorganismen sollen als Chassis für die Produktion von allem Möglichen dienen: Medikamente, Biotreibstoff, Chemikalien – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Bislang ist nur das Wissen beschränkt. „Wir können DNA bearbeiten und synthetisieren, aber wir können noch keine Gene mit neuen Funktionen entwerfen“, sagt Smith. Wir können also bislang die Programme der Natur kopieren, nachbauen und kleine Teile davon abändern. Ein eigenes Programm fürs Leben zu schreiben, ist aber noch niemandem gelungen. Aber auch Computerprogrammierer lernen, indem sie Code anderer erst einmal nachbauen. Solange, bis sie verstanden haben, wie es funktioniert. Dann können sie kreativ werden.

Hanno Charisius

Hanno Charisius is a science journalist and biologist by training. He writes for a variety of German language public media and co-authored books about biohackers and the human gut microbiome.