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Veröffentlicht 29. Juni 2015 von Harald Martenstein

Harald Martenstein unter Nobelpreisträgern: „Was ist dagegen schon die Oscar-Verleihung?“

In jedem Sommer treffen sich in Lindau Nobelpreisträger, sie halten Vorträge und diskutieren mit jungen Wissenschaftlern aus aller Welt. Es ist die hochkarätigste wissenschaftliche Tagung der Welt. Aber der spektakulärste Moment der Veranstaltung ereignet sich gleich zu Beginn, während der Eröffnungsveranstaltung – mein Gott, was erzähle ich da? Ich kann es eigentlich gar nicht beurteilen, ich bin zum ersten Mal da. Ich weiß gar nichts. Aber es muss ganz einfach so sein.

Eine Tür zum großen Saal der Inselhalle öffnet sich, dramatische Musik wallt auf, und die Nobelpreisträger marschieren ein, im Gänsemarsch. Es sind diesmal 65, eine sehr große Zahl. Seit 1901 sind insgesamt nur knapp 900 Nobelpreise vergeben worden. Die anderen im Saal, Politiker, Journalisten, Forscherkollegen, stehen auf und klatschen. Die Preisträger laufen durch ein Spalier klatschender Menschen. Sie kommen nur mühsam voran, denn ihre Füße sind schwer. Manche brauchen Stöcke, andere stützen sich auf eine Begleitperson. Sie sind fast alle alt, manche sehr alt, sie haben fast alle weißes Haar, diesen Preis bekommt man nicht als junger Mensch. Fast alle sind Männer.
„Was ist schon die Oscar-Verleihung dagegen, oder der Bambi?“

 

65th Lindau Nobel Laureate Meeting, Lindau, Germany   Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings
65th Lindau Nobel Laureate Meeting, Lindau, Germany
Picture/Credit: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

Diese alten Männer verkörpern das Wissen der Welt. Sie sind in ihren Fächern – Chemie, Physik, Medizin, Biologie – die brillantesten Köpfe des Jahrhunderts, das hier ist eine grandiose Filmszene. Was ist schon die Oscar-Verleihung dagegen, oder der Bambi? Irrelevant. Die alten Männer haben geholfen, Krankheiten zu besiegen, das Universum zu verstehen, die Rätsel unser Existenz zu entschlüsseln. Die haben mehr für die Menschheit getan als jeder engagierte Schriftsteller und jeder Hashtag-Aktivist, denke ich, während sie müde an mir vorbeischlurfen. Sie sind nicht jung, sie sind nicht schön, aber wenn die Erde untergeht und nur ein paar Menschen mit einem Raumschiff gerettet werden können, auf einen anderen Stern, dann wäre es sicher klug, ein paar von diesen alten, dicken, weißhaarigen Typen mitzunehmen. Das wäre klug, aber wäre es auch politisch durchsetzbar?

Während der Eröffnungsreden schlafen viele der Nobelpreisträger ein. Der Bundespräsident erzählt etwas über Mütter von Kindern mit Down-Syndrom, denen andere Mütter auf dem Spielplatz ihr Mitgefühl aussprechen. Sie hätten wohl den Termin für die Fruchtwasseruntersuchung verpasst, oder? Die Wissenschaft sucht nach Perfektion, sagt Gauck, aber es komme heute auch darauf, das Unperfekte zu verteidigen, das Fehlerhafte. Originalität wichtiger als Wissen?

 

 

Bundespräsident Joachim Gauck hatte sichtlich Freude an seinem Lindau-Besuch. Foto: Adrian Schröder / Lindau Nobel Laureate Meetings.
Bundespräsident Joachim Gauck hatte sichtlich Freude an seinem Lindau-Besuch. Foto: Adrian Schröder / Lindau Nobel Laureate Meetings.

Ein Wirtschaftswissenschaftler spricht als letzter, Kjell Nordström aus Stockholm. Er sagt, dass in ein paar Jahren 85 Prozent der Menschheit in etwa 600 Städten leben werden, diese 600 Städte sind dann die Welt, die Menschen werden von einer Stadt in die andere ziehen, Länder sind unwichtig. So ähnlich habe man, als Bürger, auch im Mittelalter gelebt. Auch Wissen werde für das Individuum unwichtig, weil das Internet mehr Wissen speichern kann als das beste Gehirn. Originalität werde viel wichtiger sein als Wissen. Nordström spricht gut, er ist originell, alle klatschen. Erst hinterher wird mir klar, dass ich nicht seiner Meinung bin. Originalität ohne Wissen, was soll das sein? Etwas, wofür man den Bambi bekommt, und was ist dann mit dem Nobelpreis?

Einer der Nobelpreisträger fehlt, der sonst fast immer in Lindau gewesen ist. Der Brite Tim Hunt, Biochemiker, hat irgendwo eine Dinner-Rede gehalten und nebenbei die ausdrücklich als Scherz deklarierte Bemerkung fallen gelassen, dass Frauen, wenn man sie kritisiert, schnell anfangen würden, zu weinen. Er wurde von seiner Hochschule zur Kündigung gezwungen. Sie haben ihn nicht mal angehört.

 

Kjell Nordström während seines Vortrages. Photo: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings
Kjell Nordström giving his presentation. Photo: Christian Flemming/Lindau Nobel Laureate Meetings

Sein Nobelpreis hat ihm nichts genützt. Die Fürsprache seiner Frau, einer renommierten Wissenschaftlerin, hat ihm nichts genützt. Dass er sich entschuldigt hat, nützte nichts. Ein Kollege brachte eine wissenschaftliche Studie bei, aus der hervorgeht, dass Frauen häufiger und rascher weinen als Männer, weltweit. Es ist bewiesen. Das nützte auch nichts. Dann ist die Eröffnungsveranstaltung zu Ende, und das Wissen der Welt wacht auf, erhebt sich mühsam, 65 Nobelpreisträger streben dem Ausgang zu. Wichtig ist heute vor allem Originalität. Wenn das Raumschiff abfliegt, tippe ich auf Heidi Klum als Passagier.

Harald Martenstein

Harald Martenstein, geboren 1953 in Mainz, studierte Geschichte und Romanistik in Freiburg. Er ist Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. Seit 2002 schreibt Martenstein Kolumnen für die ,,Zeit", die auch in Buchform erscheinen.Zuletzt erschien die Kolumnensammlung "Die neuen Leiden des alten M.". Daneben veröffentlichte er die Romane "Heimweg" (2007) und "Gefühlte Nähe" (2010) sowie den Reportagenband "Romantische Nächte im Zoo" (2013). Für seine journalistische Arbeit erhielt er den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Theodor-Wolff-Preis, für seine Romane unter anderem den Georg K. Glaser-Preis. Martenstein lebt in der Uckermark und in Berlin.