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Veröffentlicht 28. Juni 2010 von Markus Pössel

Größenordnungen und Tellerränder

Jetzt hat das Treffen wirklich begonnen, und ein Nobelpreisträgervortrag folgt auf den nächsten. Natürlich bin ich auf die großen Themen gespannt, die Querverbindungen zu meinem eigenen wissenschaftlichen Hintergrund haben — Teilchenphysik, Astrophysik, Kosmologie —, aber an diesem Morgen habe ich mich auf den Blick über den physikalischen Tellerrand eingestellt. Molekularbiologie steht auf dem Programm, und damit für mich als biologischen Laien die Frage: Wie allgemein zugänglich sind die Lindauer Vorträge?

In Jack Szostaks Vortrag, meinem ersten für heute, fühle ich mich am Anfang ganz unerwarteter Weise wie zu Hause. Szostak (Medizin 2009) spricht über „Learning about the Origin of Life from Efforts to Design an Artificial Cell“ und beginnt dabei mit Bildern, die auch aus meinem Heimatinstitut stammen könnten, dem Max-Planck-Institut für Astronomie. Da haben wir sie, die Querverbindung über 15 Größenordnungen hinweg, von wenige Mikrometer großen Zellen bis hin zu den Exoplaneten, also zu Planeten, die ferne Sterne umkreisen und derzeit ein Haupt-Beobachtungsziel der Astronomen darstellen (bislang entdeckte Anzahl: 464, Tendenz rasch steigend). Ungewohnt und reizvoll, das Thema einmal von der anderen Seite beleuchtet zu sehen: In den astronomischen Vorträgen, die ich ja nun mit einiger Regelmäßigkeit höre, wird die Suche nach Leben auf anderen Planeten zwar selbstverständlich, da wichtigstes Fernziel der Exoplaneten-Untersuchungen, erwähnt („Suche nach der zweiten Erde“). Aber solche Vorträge steigen typischer Weise nicht tiefer in die Biologie ein, sondern gehen recht rasch zu den astronomischen Beobachtungen über. Bei Szostak ist es anders herum: Etwas Astronomie, und dann geht es ab zu den Zellen.

Nun bin ich also wirklich jenseits meines üblichen Tellerrandes, und ich bin positiv überrascht. Gut erklärt und illustriert (und durch Probleme, die Saalbeleuchtung zu dimmen, nur temporär behindert) erzählt Szostak von jüngeren Ergebnissen seiner Arbeitsgruppe so, dass auch ein nicht-Biologe wie ich gut folgen kann.

Mein erstes „Aha“ ist bei Szostak nur eine Nebenbemerkung. Dazu muss man wissen: Der (noch lange nicht realisierte) Plan der Astronomen auf der Suche nach Leben auf Exoplaneten zielt auf den Nachweis ganz bestimmter chemischer Signaturen in der Atmosphäre erdähnlicher Planeten ab: Wasser und Ozon, in bestimmter Konzentration eine Kombination, die sich nur durch die massenhafte Anwesenheit von Organismen erklären lässt, die Photosynthese durchführen. Dass Szostak in seinem Vortrag kurz Möglichkeiten für nicht-wasserbasiertes Leben erwähnt (konkreteste Hoffnung: Leben auf Methan-/Ethanbasis auf dem Saturnmond Titan?), lässt mich dementsprechend aufhorchen. Das hört sich so an, als ob Astronomen und Molekularbiologen noch einigen Spaß miteinander haben dürften.

Dann kommt der eigentliche Kern des Vortrags. Darüber wird Lars Fischer hier noch ausführlich berichten — eine für mich faszinierende Welt zwischen physikalischer Chemie und Biologie, mit Fast-schon-Zellen, die für ihre Teilung noch arg auf Schütteln oder äußere Temperaturschwankungen angewiesen sind, aber schon erkennen lassen, wo dann das Evolutions-Wettrennen anfangen wird. 

Zumindest dieser Stichprobe nach zu urteilen, kann ich bestätigen: der Blick über den Tellerrand ist in Lindau mehr als nur ein Schlagwort. 

Hier als Nachtrag meine jeweils aktualisierte Liste dafür, wie es mit meinem Blick über den Tellerrand weiterging:

  • Harald zu Hausen (Montag), Human cancers linked to infections:  Bis auf einige Details gut verständlich.
  • Luc Montagnier (Montag), DNA between Physics and Biology: Anfang OK, danach für mich weniger verständlich und zu technisch; habe dann abgeschaltet und, Bastian’s Beitrag nach zu urteilen, einiges verpasst.
  • Françoise Barré-Sinoussi (Montag), HIV und Retroviren: Interessantes Gesamtbild des Zusammenspiels von Forschung, Klinik und Politik zum Thema AIDS und Retroviren
  • Roger Tsien (Dienstag): Designing Molecules and Nanoparticles to Help See and Treat Disease: Wow! So sollte ein gehoben allgemein verständlicher Vortrag sein! Interessante Grundlagen, beeindruckende Bilder, praktischer Nutzen, und direkte Einblicke, wie man seine Chancen auf eine erfolgreiche Karriere erhöhen kann (nicht nur, aber auch „Try to find projectts that give you some sensual pleasure or put your neuroses to constructive use“)
  • Oliver Smithies (Mittwoch): Chance, Opportunity and Planning in Science: Furiose Tour durch Jahrzehnte von Laborbüchern — eine tolle Mischung aus Molekularbiologie, Medizin, mit viel Aha-Effekt dazu, was es konkret heißt, gute und erfolgreiche Wissenschaft zu betreiben.

Markus Pössel