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Veröffentlicht 5. Juli 2012

Die Physik der Chemie

Das Hauptthema der diesjährigen Lindauer Tagung ist zwar Physik, aber tatsächlich sind sowohl Teilnehmer als auch Nobelpreisträger bunt gemischt, und es ist wieder einmal ein beträchtlicher Anteil an Chemikern vor Ort. Dementsprechend befassten sich auch die ersten drei Lectures am Donnerstag mit verschiedenen Aspekten der Chemie, und gestern referierte Kurt Wüthrich über die Strukturaufklärung von Proteinen.

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Kurt Wüthrich. Bild: DerHuti, Wikipedia.de, CC BY-SA

Gerade Wüthrich kann ein Lied davon singen, wie eng Chemie und Physik inzwischen zusammengewachsen sind, zumindest wenn es um Funktion und Struktur geht. Denn die komplexen Formen nicht nur großer Biomoleküle klärt man heutzutage mit physikalischen Methoden auf. Ohne geht es in der Chemie nicht mehr. Zu allererst muss man da natürlich die Röntgenstrukturanalyse nennen, bei der man durch Röntgenbeugung an Molekülkristallen die Positionen der Atome herausfindet. Dieses Verfahren ist oft extrem kompliziert und mühselig, und zwar aus rein chemischen Gründen: Gerade große Biomoleküle kristallisieren oft nur extrem unwillig und unter Verwendung einiger Tricks. Das kann gerne mal Monate oder Jahre dauern bis man einen ordentlichen Kristall bekommt. Wenn man den hat ist der Rest vergleichsweise einfach, auch dank der Arbeit einiger anderer Nobelpreisträger.

Seit Mitte der 80er Jahre ist das etwas einfacher geworden, dank Wüthrich und seiner Kollegen. Seither nämlich bedient man sich der Kernresonanzspektroskopie, bei der man Spinsignale verschiedener Atomkerne erzeugt und aufzeichnet. Wie das im Detail funktioniert, würde hier zu weit führen, es sei aber angemerkt, dass diese Methode bei Proteinen extrem kompliziert ist, einfach weil sie so viele unterschiedliche Atomkerne enthalten. Tausende. Und sie alle senden sehr ähnliche Signale. Es hat Jahre gedauert um Methoden zu entwickeln, mit denen sich diese Signale unterscheiden und auswerten lassen. Aber seither kann man die Struktur von Proteinen in ihrer natürlichen Umgebung untersuchen – gelöst in Wasser.

Wie wichtig solche Methoden zur Strukturaufklärung inzwischen geworden ist, zeigt die Situation in den Proteindatenbanken. Von mehr als 14 Millionen Proteinen aus allen Bereichen der Biosphäre sind die Sequenzen bekannt – aber über die allermeisten dieser Proteine weiß man überhaupt nichts, weil es eben die Struktur ist, die die Musik macht. Die komplexen Formen, zu denen sich diese Kettenmoleküle in Wasser verschlingen, bestimmen, in welcher Weise sie untereinander und mit kleinen Molekülen wechselwirken.

Diese Vorgänge sind das eigentliche Hoheitsgebiet der Chemie. Dies ist das, was Wüthrich als Universum der Strukturgenomik bezeichnet, und es ist nach wie vor weitgehend unerforscht. Viele wichtige Fragen sind noch völlig offen, einerseits technische wie über den Ablauf und die Triebkräfte eben dieser Faltungsvorgänge – andererseits aber auch grundsätzliche wie die Frage, wie viele Topologien Proteinketten prinzipiell einnehmen können und welcher Anteil davon in der Natur tatsächlich realisiert ist. Oder, um mal ein ganz neues und wenig bekanntes Forschungsgebiet zu nennen, welche Rolle Knoten in der Proteinkette spielen.

Das unerforschte Universum

Verglichen mit der Anzahl der möglichen oder auch nur bekannten Proteinsequenzen ist die Anzahl der möglichen Funktionen eines Proteins sehr gering. Das wirft die Frage auf, wieviele Strukturen und Sequenzen es gibt, die eine bestimmte Funktion biologisch sinnvoll erfüllen können. Sind die Möglichkeiten unendlich, oder gibt es bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die die potentiellen Varianten einschränken? Die gleiche Frage kann man eine Ebene darüber stellen: Wieviele Sequenzen können eigentlich eine bestimmte Struktur realisieren?

Die für die Erforschung dieser Fragen so wichtige dreidimensionale Form allerdings kennen wir nur von etwa 74000 dieser Moleküle. Das ist gut ein halbes Prozent. Und nur mit diesem Prozent können wir die komplexe Chemie betreiben, die Wüthrich in seinem Vortrag beschrieben hat. Das ist viel zu wenig um die wirklich wichtigen Fragen zu beantworten.

Deswegen kommt heutzutage vor der Chemie fast immer die Physik. Denn natürlich arbeiten Chemiker nicht mehr, indem sie Lösungen zusammenkippen, gucken was passiert und ziehen dann ihre Schlussfolgerungen. Die Erfolge der Physik haben das Vorgehen in der Chemie quasi umgedreht: Heutzutage schaut man erst einmal nach was man da genau hat, bevor man tatsächlich ins Labor geht um herauszufinden, ob die werten Moleküle auch einigermaßen das machen was man sich vorstellt. Meistens nicht. Aber das ist eine andere Geschichte.