BLOG

Veröffentlicht 23. August 2017 von Steve Schifferes

Europa: Gefahr in Verzug?

Die Erholung der Eurozone gestaltet sich fragil und Europa steht weiterhin vor zahlreichen wirtschaftlichen Herausforderungen, so der Nobelpreisträger Sir Christopher Pissarides bei einem Pressegespräch auf der 6. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften am Mittwoch, den 23. August 2017.

Die Weigerung Deutschlands, trotz riesiger Haushalts- und Handelsbilanzüberschüsse mehr zu investieren, hemmt das Wachstum in anderen Ländern der Eurozone, argumentierte er. Seiner Ansicht nach sind die Entscheidungen der deutschen Politik ausschließlich von den Interessen der deutschen Wirtschaft und nicht der Eurozone geleitet. Noch immer überschattet Austerität die wirtschaftliche Wiederbelebung.

Und weitere Gefahren liegen laut Professor Pissarides vor uns. Dazu zählen Risiken für den Finanzsektor, die darauf zurückzuführen sind, dass die Eurozone ihre Reformen im Bankensektor nicht zum Abschluss gebracht hat, und die Tatsache, dass Europa im Produktivitätswachstum hinter seinen Konkurrenten aus den Vereinigten Staaten und Fernost hinterherhinkt.

 

Press Talk at the 6th Lindau Meeting on Economic Sciences. Picture/Credit: Julia Nimke/Lindau Nobel Laureate Meetings
Pressegespräch während der 6. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften: Veronika Stolbova, Lenka Fiala, Eric Maskin, Romesh Vaitilingam, Chris Pissarides und Frances Coppola (von links). Picture/Credit: Julia Nimke/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

Im Bankwesen bleibt trotz Einführung eines neuen Abwicklungsverfahrens unklar, wer für die Rettung einer Großbank, deren Zusammenbruch droht, aufkommen würde. Die Fragilität des gesamten Bankensektors bereitet weiterhin Sorgen und hat übermäßige Regulierungen zur Folge.

Laut Professor Pissarides hängt das langfristige Wachstum in Europa von angebotsorientierten Reformen ab, die zu Infrastrukturinvestitionen ermuntern – und zwar nicht nur in Straßen und Brücken, sondern auch in innovationsfördernde digitale Technologien. Optimistischer fiel seine Einschätzung der in einigen Ländern zu beobachtenden Veränderungen in den Arbeitsmärkten aus, die seines Erachtens langfristig zur Verringerung der Arbeitslosigkeit beitragen. Allerdings könnte es mehrere Jahre dauern, bis sich die Reformen bemerkbar machen.

Eine radikale strukturelle Änderung schlug Nobelpreisträger Eric Maskin in der Diskussionsrunde vor. Sie soll die Entkopplung der europäischen Geldpolitik, die für die Eurozone als Ganzes festgelegt wird, von der auf nationaler Ebene geregelten Finanzpolitik adressieren. Durch Einrichtung eines unabhängigen Finanzrates nach dem Modell der Europäischen Zentralbank, so meinte er, ließe sich die Einflussnahme der Politiker ausklammern.

 

Eric Maskin during the Press Talk at the 6th Lindau Meeting on Economic Sciences. Picture/Credit: Julia Nimke/Lindau Nobel Laureate Meeting
Eric Maskin während des Pressegesprächs. Picture/Credit: Julia Nimke/Lindau Nobel Laureate Meeting

 

Im Rahmen einer solchen Regelung würden Experten, die von den europäischen Regierungen ernannt werden, aber nicht deren Kontrolle unterliegen, künftig unter Beachtung eines vereinbarten Regelwerks für jedes Land Haushaltsüberschuss- oder -defizitziele festlegen. Den einzelnen Ländern würde dann die Entscheidung überlassen, wie sie diese Ziele erreichen wollen und welche Gewichtung zwischen Besteuerung und öffentlichen Ausgaben sie wählen. Professor Maskin räumte allerdings ein, dass es wohl eine enorme Herausforderung darstellen würde, Deutschland von der Umsetzung solcher Maßnahmen zu überzeugen.

Die Journalistin Frances Coppola brachte die deutsche Handlungsweise mit einer weiteren enormen Problematik für Europa in Zusammenhang: der rasanten Bevölkerungsalterung und der somit notwendigen Vorsorge für eine Wirtschaft mit weniger Erwerbstätigen als Nichterwerbstätigen. Die Reaktion Deutschlands auf den eigenen Haushaltsüberschuss sei vor diesem Hintergrund vernünftig, sagt Coppola.

Veronika Stolbova, eine der Nachwuchsökonomen, die an der Lindauer Tagung teilnehmen, wies auf eine weitere langfristige Gefahr für die Eurozone hin: die finanziellen Auswirkungen des Klimawandels. Ihre eigenen Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Erträge von institutionellen Anlegern, beispielsweise Investmentfonds und Pensionsfonds, unter Investitionen in Industrien, die von den negativen Folgen des Klimawandels betroffen sind, leiden könnten.

Auch die Frage nach der politischen Führungsrolle spielte stark in die Diskussion über die künftige Richtung der Eurozone hinein. Professor Pissarides argumentierte, dass auf europäischer Ebene kein hochrangiges politisches Forum existiert, das sich um langfristige Wirtschaftsfragen kümmern könnte. Die Eurogruppe, so führte er aus, sei nur auf kurzfristige Krisenlösungen konzentriert.

Professor Maskin und Professor Pissarides waren sich einig, dass Veränderungen nur erreicht werden könnten, wenn Führungspersönlichkeiten mit einer großen Vision, die nationale Grenzen überwindet, auf der Bildfläche erscheinen – wie in der Vergangenheit ein Jean Monnet, Wegbereiter der EU, oder ein General George Marshall, dessen Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wirtschaftsaufschwung in Europa führte. Solange solche Führungspersönlichkeiten ausbleiben, werden sich die langfristigen strukturellen Probleme der europäischen Wirtschaft in absehbarer Zeit nicht lösen lassen.

Steve Schifferes

Professor Steve Schifferes was the first Marjorie Deane professor of Financial Journalism at City University of London where he set up a new MA in Financial Journalism which has attracted students from around the world. His main research has focused on the financial crisis, trust in journalism, and the history of business journalism. His latest book, the Media and Austerity, will be published by Routledge next. Prior to his academic career he was an economics correspondent for BBC News.