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Veröffentlicht 14. Dezember 2017 von David Smerdon

Eine Chance, die man nutzen muss

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Ich muss gestehen, dass mich die Aussicht, an der 6. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften teilzunehmen, sehr eingeschüchtert hat. Mehr als zwanzig der klügsten Köpfe in der Geschichte würden zusammen mit Hunderten der begabtesten Nachwuchswissenschaftler auf einer Insel verbringen – ich fühlte mich wie ein blinder Passagier auf einer exklusiven Kreuzfahrt und fragte mich, wie in aller Welt es mir gelingen sollte, mich an den Gesprächen zu beteiligen, ohne als Blender entlarvt zu werden.

 

David Smerdon (right) with Countess Bettina Bernadotte and laureate Jean Tirole. Picture/Credit: Lisa Vincenz-Donnelly/Lindau Nobel Laureate Meetings

Gräfin Bettina Bernadotte, Nobelpreisträger Jean Tirole und David Smerdon. Photo: Lisa Vincenz-Donnelly/Lindau Nobel Laureate Meetings

 

Doch im Nachhinein waren meine Befürchtungen unbegründet. Schon bei den allerersten Kontakten nach der Ankunft am Flughafen war jeder, dem ich begegnete, engagiert, aufgeschlossen und vor allem freundlich. Mit Nathan aus Chicago fachsimpelte ich auf der Taxifahrt vom Flughafen darüber, wie sich die Qualität von Lehrkräften am besten messen lässt, und wir tauschten Geschichten über die Kämpfe auf dem Jobmarkt aus. Nach einer Begegnung mit Veronika, einer Physikerin aus Russland, staunte ich über das, was ich über die Entwicklungen in der Finanzierung des Klimaschutzes erfahren hatte. Später beim Abendessen saß ich Banji gegenüber, der mich über die Folgen der nigerianischen Handelspolitik auf die Energiemärkte aufklärte, während mir Eleni von den ersten Ergebnissen einer Pilotstudie zum Bargeldtransfer in Äthiopien berichtete. Im Bus führte mich Roxana aus Rumänien in eine Form der Ökonometrie ein, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte. Als ich an diesem Abend todmüde ins Bett fiel, war mein Notizbuch bereits voll mit flüchtig festgehaltenen Notizen über die Menschen, denen ich begegnet war, und die geführten Gespräche – und dabei hatte das offizielle Programm noch nicht einmal begonnen.

Es waren dann die Begegnungen mit den Nobelpreisträgern selbst, die mich wirklich überraschten. Ich hatte ja erwartet, dass diese angesehenen Staatsmänner freundlich und zuvorkommend sein würden – was sie auch waren – aber ich hatte nicht erwartet, dass sie soweit über ihre offiziellen Pflichten (mir fällt kein besseres Wort ein) hinausgehen würden. Die Laureaten waren nicht nur unermüdlich bereit, auf unsere zahllosen übergriffigen und unterwürfigen Selfie-Wünsche einzugehen, sondern suchten aktiv den Kontakt zu uns auf intellektueller Ebene und führten bei jeder möglichen Programmpause anregende Gespräche mit unterschiedlichen Gruppen von Wissenschaftlern. Sie ermutigten uns geradezu dazu, die großen Fragen zu stellen, sei es nun zu ihrer Arbeit, unseren eigenen Karrieren oder dem Stand der Wissenschaft selbst. Sie hörten sich unsere Ansichten an, und das nicht in einer herablassenden Attitüde oder mit perfekt herausgearbeiteten Gegenargumenten, sondern in einer Haltung des echten Interesses. Ihre intellektuelle Ausstrahlung war kaum zu ignorieren. Aber dennoch zeigten uns die Laureaten bei mehreren Gelegenheiten auch ihre menschliche Seite und bewiesen beispielsweise, dass sie auch mal gerne feiern (wer hätte gewusst, dass sie so tanzen können?). Ein Ratschlag, der sich für mich wie ein roter Faden durch alle Empfehlungen der Nobelpreisträger zog, war ihr aufrichtiger Wunsch, dass junge Wirtschaftswissenschaftler relevante, die Lebensbedingungen verbessernde Forschungsthemen aufgreifen, statt sich lediglich am klassischen Veröffentlichungsmarathon zu beteiligen. Als jemand mit politischem Hintergrund und deshalb eher ein ‘Spätentwickler’ in der Welt der Wissenschaft hat mir diese Warnung sehr gut gefallen – obwohl man solche Botschaften mit einem Nobelpreis im Rücken natürlich auch leichter austeilen oder gar befolgen kann… Gleichwohl stellte ich fest, dass dieser Idealismus auf Resonanz bei meinen Forscherkollegen stieß, und so war es auch eine besondere Freude, ihren Präsentationen und den Anmerkungen der Nobelpreisträger in den Parallelveranstaltungen zu folgen – ganz zu schweigen von den vielen angeregten Gesprächen, die wir beim Essen, in den Kaffeepausen und sogar beim Schwimmen im See führen konnten. Allein aufgrund dieser kurzen Forschungseinblicke konnte man sich vorstellen, einige von ihnen irgendwann in Zukunft selbst vor dem schwedischen König stehen zu sehen.

Ich hätte diesen Positivismus in einem Raum voller Wirtschaftswissenschaftler nicht erwartet.

Besonders genossen habe ich den Austausch mit Menschen aus ganz anderen Forschungsgebieten als meinem – einschließlich, wohlgemerkt, die Begegnungen mit anderen Teilnehmern wie den Partnern der Nobelpreisträger und der Wissenschaftler, Mitgliedern des Lindauer Kuratoriums und Mitarbeitern der Geschäftsstelle sowie Industriepartnern. In der knallharten Welt der Wissenschaften kann man sich so leicht in den engen Silos verlieren, in denen wir uns heute spezialisieren. Deshalb war es ein unerwartetes Vergnügen, solch anregende Debatten führen zu können, die alle Bereiche der Wirtschaft und der Politik miteinander kombinierten, um sich auf Probleme der echten Welt zu konzentrieren (ich hatte wirklich vergessen, dass Makroökonomie Spaß machen kann). Noch wichtiger war die Entdeckung, dass offensichtlich eine gemeinschaftliche Motivation unter den Wissenschaftlern besteht, unsere Arbeit möge auf gewisse Weise von Bedeutung für die ‘Welt da draußen’ sein und dass es die Investition, die wir selbst und andere in unsere Ausbildung gesteckt haben, verdient, durch relevante Beiträge zur Verbesserung der Lebensbedingungen zurückgegeben zu werden. Um ehrlich zu sein, hätte ich diesen Positivismus in einem Raum voller Wirtschaftswissenschaftler nicht erwartet. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist das wohl genau das, worum es bei den Lindauer Tagungen eigentlich geht.

Es war irgendwie traurig, Lindau nach dieser kurzen, aber bewegenden Zeit wieder verlassen zu müssen. Klar, ich habe mich eine Woche lang fast nur durch Koffein und kurze Nickerchen wachgehalten, das Erste-Hilfe-Zelt zweimal aufsuchen müssen und am Ende fehlten mir auch saubere Socken. Aber die Lindauer Tagung war, man verzeihe mir das Klischee, ein unvergessliches Erlebnis. Ich kam mit einer überfüllten Mappe mit Vortagsnotizen, auf Servietten gekritzelten Forschungsideen und zerknitterten Visitenkarten von Wissenschaftlern und anderen Teilnehmern nach Hause zurück – das alles dank der wunderbaren Gelegenheit, die die Stiftung und das Kuratorium für die Tagungen der Nobelpreisträger in Lindau uns geboten haben. Eine Chance, die ich nicht ungenutzt lassen werde.

Neben Nobelpreisträger Jean Tirole hielt David Smerdon eine Abschiedsrede bei #LiNoEcon.

 

Diesen und weitere Berichte über die 6. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften finden sich im Jahresbericht 2017.

David Smerdon

David is a behavioural and development economist. He received his PhD from the University of Amsterdam in 2017 and will take up a position at the University of Queensland as an Assistant Professor later this year. Prior to his studies, David worked as a policy analyst for the Australian Department of Treasury, and was also briefly a professional chess player.